11. April 2020

Smarte Technik hilft, menschlich nah zu bleiben

Mein Facetime klingelt. Es ist die DemenzWG, in der meine Angehörige lebt. Wir sind aufgrund des Besuchsverbotes zum Call verabredet und ich freue mich schon. Meine Tante wird im Mai 87 Jahre, im Heim ist sie das fünfte Jahr. Sie ist dement, hat den Pflegegrad 4, leidet unter zahlreichen Vorerkrankungen. In Corona-Zeiten fällt sie zu 100 Prozent in die Risikogruppen der besonders Gefährdeten.

Heute, Stand 9. April 2020, sind rund 108.000 Menschen in Deutschland mit Covid 19 infiziert. Die Mortalitätsrate liegt derzeit bei 1,8 Prozent. Informationen des RKI zufolge sei mit steigenden Todeszahlen zu rechnen. Vor allem, weil jetzt verstärkt auch Alten- und Pflegeheime sowie Demenz-WohnWGs betroffen sind. Also auch meine Angehörige. Ich bin für sie verantwortlich – und kann nichts tun.

Noch in der letzten Woche hatte ich mich ganz heftig mit dem WG-Träger, der Diakonie e.V., gestritten: Angesichts des rigiden (und notwendigen) Besuchsverbotes wollte ich umgehend Videotelefonie anwenden, um meine liebe Demenzerkrankte im Bewegtbild zu sehen. Ging nicht. Die Diakonie prüfte erst noch kompliziert auf Datenschutz. Verhedderte sich dann in der technischen Anwendung – es brauchte erst einen jungen Pfleger der die Technik bedienen konnte. Schließlich gelang ein kleiner Siegeszug digitaler Technik in eine sonst öde Wüste, was smarte Innovation angeht. Die DemenzWG glänzte bisher durch analoge Tradition. Meine Aufgaben als sorgende Angehörige kann ich so derzeit nicht oder nur eingeschränkt ausüben.

Pflege ist in Coronazeiten schwierig bis tödlich.

Die (mediale) Öffentlichkeit entdeckt nun plötzlich auch diese höchst verletzlichen und alleingelassenen Orte: Alten- und Pflegeheime. Hier lebt sie in großen Ansammlungen, die so viel zitiert vulnerable Risikogruppe der Hochbetagten. Und gleichzeitig zielt das mediale Spotlight auf die Personen, die jeden Abend beklatscht werden und Großartiges leisten: Die Pflegekräfte.

Mir ist gänzlich unwohl dabei, wenn die Heime so im Fokus stehen, denn das wird in erster Linie traditionell Folgendes befeuern: Den massiven Anstieg der Eigenanteile, weil alle “Extraaufwendungen” wie Desinfektionsmittel, Schutzanzüge, Masken, Sonderschichten, Tablets (eilig angeschafft) – auf der Kostenseite der Nutzer landen. Man hat ja nun einen guten medialen Einblick in die Fürsorge und besondere Vorsicht in den Heimen. Dieses „Mehr“ wird zum Risiko von wenigen Schultern. Denn der Anteil der Pflegekassen ist gedeckelt. Die Kostenspirale für die Unterbringung im Heim wird für die Bewohner und Angehörige post Corona ins Unermessliche steigen. Meine Forderung lautet daher:

  • Deckelt jetzt sofort die Eigenanteile. Umgehend. Noch bevor die Träger ihre Taschenrechner in Schwung bringen. Pflege verteuert sich durch Corona noch mehr zu einem Luxusartikel, den sich kaum einer wird leisten können.
  • Der Einsatz von smarter Technik, Robotern und digitaler Tools für die Pflegedokumentation und medizinische Versorgung wird ab sofort Pflicht.

Bevor mir jemand Herzlosigkeit vorwerfen will, weil ich gerade diese Themen auf den Tisch bringe und nicht etwa rührende Geschichten, möchte ich ein paar Gedanken äußern, die mich zu dieser Einschätzung bewegen.

Natürlich leisten die Pflegekräfte enorm viel, in manchen Fällen Übermenschliches. Pflege ist Beziehungsarbeit, sie erfordert nicht nur Knowhow, sondern vor allem eigene Energie, Empathie, Einsatz am Menschen. Und zwar rundum, hier ist nicht nur Zuspruch und Suppe reichen gemeint, sondern auch das Wechseln von Windeln Erwachsener. Es sind nicht nur die fitten Senioren im Heim, die Silbergrauen, sondern auch Menschen, die gar nichts mehr können. Höchstens im Bett liegen unter ihren weißen Decken – und atmen. Mit ihrem Einatmen gewinnt das Leben, mit dem Ausatmen tritt jedes Mal der Tod einen Schritt näher. Das muss man aushalten können, als Pflegekraft, als Angehörige. Krankenschwestern und -pfleger sind das Rückgrat eines jeden Gesundheitssystems, schon vor der Krise.

Aber: Sie arbeiten in kranken Systemen. Und daher ist der Fokus jetzt und vor allem nach Corona zu verschieben, von den Menschen, die helfen und einen guten Job machen, hin auf das, was ein solidarisches Gesundheitssystem längst kaputt macht. Marktideologien mit Gewinnmaximierung und Kostensenkung:

  • Eins dieser Krankheitssymptome ist das neoliberale Renditestreben von Krankenhäusern als auch Pflegeeinrichtungen. Warum haben wir zugesehen, wie medizinische Hilfe zu rein betriebswirtschaftlichen Fallpauschalen degenerierte?
  • Zum anderen ist es die bisher durchweg fehlende flächendeckende Digitalisierung in diesem Bereich und auch das Fehlen von intelligenten Datenerhebungen.

Wir müssen also in der Diskussion streng unterscheiden zwischen dem Lob an die Pflegekräfte (völlig berechtigt, ich reihe mich ein) – und gleichzeitig einen fetten Tadel an das System richten, vor allem an die Betreiber von Pflegeeinrichtungen. Und an die politische Entscheidung, die goutiert, dass Pflege immer teuerer wird. Gute Löhne für gute Pflege, unbedingt ja. Aber längst ist das Geschäftsmodell darüber hinaus rentabel und fließt nicht allein in Löhne und auch nicht in die notwendige digitale Modernisierung. Die Pflegebeiträge sind gedeckelt, die Eigenanteile aber nicht. Das ist ein Scheunentor für diese renditeversprechenden Konzepte, die einzig am Gewinn interessiert sind. Pflegebedürftige und Angehörige sind dem bisher schutzlos ausgeliefert.

Und dann ist da derzeit dieses Gefühl der “Black Box” Pflegeheim. Ich kann seit Wochen nicht hineinschauen. Das Gefühl für “da drinnen” geht verloren. Die Kontrolle fehlt. Ich wünsche mir nun um so mehr digitale Anwendungen, die meine physische Anwesenheit ersetzen – oder besser, mir Augen und Ohren ins Heim ermöglichen. Videotelefonie ist eine dieser Errungenschaften. Es macht einen Unterschied, jemanden im Bewegtbild zu sehen oder nur zu hören. Ich kann so den Zustand meiner Angehörigen in Gänze ermessen. Und sie verliert nicht den Kontakt zu mir, weil sie nicht versteht, warum ich nicht mehr persönlich bei ihr erscheinen kann. Sie vergisst auch unser Telefonat – aber das glückliche kleine warme Gefühl ums Herz, das beim Anschauen und Erkennen in diesem kleinen Tablet entstanden ist, das bleibt. Alter bedeutet oft genug Einsamkeit. Wenn digitale Technik Menschen einander näher bringt, gehört sie genau hier hin! Schon vor Corona.

Gleichermaßen fehlt derzeit der Zugriff auf die Pflegedokumentation. An normalen Tagen darf ich diese jederzeit persönlich auf Papier lesen, sie ist minutiös verfasst, jede Stunde ist eingetragen und mit Kürzeln der Pflegekräfte versehen. Die Dokumentation sieht aus wie die Mandalakritzeleien von Grundschulkindern. Sie wird handschriftlich verfasst, digital “werde von der Kasse nicht anerkannt”. Mit nach Hause nehmen darf ich die Nachweise nicht – ich müsste sie fotografieren, weil Kopien Geld kosten. Digital wäre der Zugriff über einen personalisierten Zugang jederzeit möglich, davon ist man weit entfernt. Auch die Unterschrift muss ich jedesmal persönlich leisten. Kann ich derzeit nicht, die Abrechnung erfolgt dann wie, frage ich mich? Digital, ich wiederhole es, könnte das ganz einfach geregelt werden. Deutschland aber liegt da im Tiefschlaf im Pflegebett und schnarcht.

Digitale Pflegedoku könnte transparent sein und Kontrolle über Leistungen und Abrechnungen ermöglichen. GPS-Daten könnten demnach sogar belegen, wo genau im Zimmer sich die Pflegekräfte aufgehalten haben und wie lange. Hört sich alles sehr brutal an, Kontrolle pur. Ist es auch. Wer aber Pflege als Produkt auf den Markt wirft und alles und jedes mit Preisschildern versieht, muss damit rechnen, dass die Kontrolle um so notwendiger ist. Pflege ist nicht nur ein Dienst am Menschen. Es ist ein hart umkämpfter Markt, mit knallharten Preis- Leistungskatalogen und dem daher logischen Wunsch der Zahler, die Strudel an Kosten überblicken zu können. Bevor sie darin unter gehen.

Warum aber übergibt man einen geliebten Menschen dann in ein Pflegeheim oder in eine Pflege-WG? Weil dies für viele Angehörige die letzte Rettung ist, weil sie oft nach jahrelanger Pflege am Ende ihrer Kraft sind. Demenzbegleitung etwa ist keine Kleinigkeit, die man nebenbei erledigt. Sie kann sich über Jahre hinziehen. Bisher fehlen zudem flächendeckende und bezahlbare digitale Assistenzsysteme für Zuhause, die Pflege und Sorge im smart Home erleichtern.

Sind die Pflegebedürftigen dann erst im Heim, kann man sie in Notzeiten wie Corona nicht einfach wieder mit nach Hause nehmen. Wer jetzt Ideen und Konzepte ermittelt, um die Hochbetagten in Heimen besonders zu schützen – oder im Fall von Infizierungen trennen muss: das ist nicht so einfach. Die Heimbewohner können nicht mehr in ihr altes Zuhause – das ist oft aufgelöst. Gleichzeitig haben die Angehörigen keine Möglichkeiten, zuhause altengerecht zu pflegen. Dazu fehlt in der Regel die Infrastruktur.

Wir reden aber spätestens jetzt über Smart Home – und über smarte Altenheime. Der Einsatz von smarter Technik ist notwendig. Der Pflegenotstand ist längst attestiert. Übrigens jetzt auch nochmal von der WHO, die hier sogar einen globalen Notstand beschreibt. Um leistungsfähig zu bleiben, können Roboter und KI helfen, fehlende menschliche Hilfe zu kompensieren. Anders wird es nicht gelingen. Spätestens wenn wir der Alterskohorte um die 55plus in einigen Jahren zuhauf pflegebedürftig sein werden, muss eine tragfähige digitale Infrastruktur breit vorhanden sein: Roboter werden dann nicht nur Lieder mit uns singen, sondern auch echte Pflege leisten können, wie heben, waschen, umdrehen. KI kommt bis dahin wie selbstverständlich zum Einsatz und errechnet unsere Vitalwerte in Echtzeit, auch, wie viel wir getrunken haben und ob unser Blutzucker ausreicht.

Pflege 4.0 ist also direkt nach der Corona-Krise viel effektiver anzugehen als das bisher der Fall war. Schon allein deshalb: die Corona-Bedrohung wird noch Monate anhalten. Die vulnerablen Hochbetagten gilt es weiterhin besonders zu schützen, eine Aufgabe, die mit analogen Bordmitteln allein nicht zu schaffen ist. Smarte Technik muss helfen. Allein aus humanitären Gründen. Allein aus wirtschaftlichen Gründen, weil Pflege sonst nicht mehr bezahlbar ist, weil auch Pflegekräfte Menschen sind, die erkranken können und müde werden. Schon allein auch aus demokratischen Gründen, denn die Aufgaben von Beiräten in Heimen, die nach dem Teilhabegesetz gewählt sind, wird derzeit ad absurdum geführt. Wir als Angehörige sind auf allen Ebenen entmachtet: Sorgeverantwortung, Kontrolle, Partizipation – und Menschlichkeit. Wir brauchen smarte Hilfsmittel, die Distanz überbrücken und uns näher dran bringen an diese aktuelle “Black Box” Heim.

Meine obigen Forderungen möchte ich um folgende Punkte ergänzen, damit nach Corona die Diskussion vermehrt in Handlung mündet:

  • Smarte Kommunikation zwischen Heimen, Angehörigen und Bewohner wird Standard, der Anschluss an Breitband gehört zur Grundausstattung
  • Smarte Kommunikation zwischen Angehörigen, Heim und Medizinern ist gesichert
  • Ausbildung der Pflegeberufe muss digitale Souveränität beinhalten
  • die Kapazitäten zur Sammlung, Analyse und Nutzung von Daten zur Gesundheit sind zu stärken
  • und im bereits erwähnten WHO-Bericht findet sich noch dies: Harmonisierung von Ausbildungs- und Praxisstandards und die Verwendung von Systemen, die die Qualifikationen von Krankenschwestern und -pflegern weltweit anerkennen und verarbeiten können

Der Einsatz von smarter Technik in Pflegeheimen wird übrigens nicht nur zu Corona-Zeiten notwendig. Wir kennen auch die schlimmen Wochen, wenn der Noro-Virus ungebetener Gast ist, oder die Grippe oder die Legionellen, oder Clostridien… Heimschließungen und begrenzte Zugänge zum Heim sind keine Seltenheit.

Corona schockiert. Uns bleibt die Tödlichkeit im Gedächtnis, wenn wir die Särgeberge in Bergamo und New York sehen. Die so vulnerable Risikogruppe der Hochbetagten im Pflegeheim ist davon jeden Tag besonders bedroht. Wie auch die Angehörigen, für die jedes Winken beim Videocall das letzte Mal sein kann. Versuchen wir mit allen smarten Mitteln, diese Bedrohung so menschlich wie nur was zu gestalten.

In drei Wochen erscheint dazu mein Buch:
„Als die Demenz bei uns einzog und ich mir einen Roboter wünschte – Innenansichten eines Demenzalltags“ ibidem-Verlag Stuttgart, 2020

Anke Knopp

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