Jahrelang ärgerte ich mich beim Bäcker in meinen Viertel darüber, dass keine Kartenzahlung möglich ist. Ich war fassungslos, als die Bundesbank im Jahr 2019 mir auch noch erklärte, dass Bargeldzahlung die schnellste Zahlungsmethode sei. Ab dem 1. Januar dieses Jahres drückte man mir noch zwangsweise einen Kassenbon auf Thermopapier gemeinsam mit meinem Wechselgeld in die Hand. Meine Laune wurde nicht besser. Es brauchte die Coronakrise, um mobiles Bezahlen bei meinem Bäcker möglich zu machen. Dieser Geist wird hoffentlich nicht wieder in der Flasche verschwinden und sollte der Start sein, die Bonpflicht zu digitalisieren. Zahlreiche Startups bieten inzwischen entsprechende Lösungen an, die sofort einsetzbar sind.
Corona führt zweifellos zu einem Digitalisierungsschub in vielen Unternehmen und vergrößert gleichzeitig den Abstand zwischen Unternehmen mit niedrigem und hohem digitalem Reifegrad. Besonders gut beobachten lassen sich diese Auswirkungen derzeit im Handel. Während Amazon die Einstellung neuer Mitarbeiter ankündigt, kämpften viele lokale Händler schon vor der Krise ums Überleben und sehen sich nun weiteren Problemen ausgesetzt. Für interne Prozesse ist die Umstellung von offline zu online dabei häufig einfacher als gedacht. Aus Präsenzmeetings werden Video-Web-Sessions, aus Workshops werden Webinare und aus Konferenzen werden Livestreams. Doch Händler, die die gute Konjunktur der letzten Jahre nicht genutzt haben, um ein funktionierendes Warenwirtschaftssystem samt Onlineshop und Warenauslieferung aufzubauen, fehlt die Grundlage, große Teile ihrer Wertschöpfung schnell von offline auf online zu shiften.
Die Wiedergeburt lokaler Online-Marktplätze
Abhilfe schaffen zahlreiche neue Einzelhandels-Portale, die in den letzten Wochen von Verbänden, Kammern und Wirtschaftsförderungen mit viel Engagement aus dem Boden gestampft wurden. Die Portale listen lokale Händler und deren aktuelle Angebote in Zeiten von Corona, z.B. Gutscheine, Lieferdienste oder Onlineshops. Allein im Münsterland gibt es mehr als zehn solcher Portale. Ich möchte offen sein: Ich war nie ein großer Fan von regionalen Online-Marktplätzen. Anstatt in sinnvolle digitale Projekte Zeit und Geld zu investieren, habe ich viele naive Rettungsanker aus dem Stadtmarketing ohne digitale Innovation und ohne wirkliche Wertschöpfung für die Händler gesehen. In Zeiten von Corona erleben ähnliche Portale nun eine Wiedergeburt und generieren viel Aufmerksamkeit bei Händlern und (das ist das Neue) auch bei Konsumenten. Der Münsterland e.V. hat beispielsweise auf seiner Lieferdienst-Plattform nach wenigen Wochen bereits über 1.000 Händler gelistet. Diese berichten über regelmäßige Plattform-Umsätze, denn die Konsumenten nutzen die Portale regelmäßig als Anlaufpunkt.
Das Momentum für neue Kooperation zwischen Handel, Stadt und lokalen Kunden ist da. Durch die gute Resonanz ihrer Plattformen werden sich viele Initiatoren bald die Frage stellen: Wie können wir die Plattformen für die Zeit nach Corona erhalten, um den lokalen Handel insbesondere in Klein- und Mittelstädten zu stärken? Hier sind nach wie vor Zweifel angebracht. Es ist zu befürchten, dass die Anzahl der Lokal-Patrioten im Web nach Corona wieder sinken wird und Preis, Bequemlichkeit und Geschwindigkeit wieder in den Vordergrund rücken. Leider fehlt es nach wie vor nahezu auch allen neuen Lieferdienst-Plattformen an digitalen Dienstleistungen, die Mehrwerte für die Kunden schaffen und letztlich ein digitales Geschäftsmodell für die Händler erzeugen. Auch die werden erfahrungsgemäß nur an Bord bleiben, wenn sich über die digitale Plattform ein Geschäft machen lässt.
Nicht zuletzt stellt sich die Frage, wer die Plattformen eigentlich nachhaltig betreiben soll und zu welchen Bedingungen. Da die meisten Plattformen vermutlich zu Beginn nicht ohne öffentliche Gelder finanzierbar sind, ist eine Beteiligung von kommunalen Institutionen zweckmäßig. Dabei sollten sie allerdings darauf achten, dass keine marktfähigen Geschäftsmodelle untergraben werden. Es wäre besser, Kooperationen mit Startups und innovativen Dienstleistern (Business to Government) zu suchen, um den Innovationsgrad zu erhöhen und sowohl die Umsetzung als auch den nachhaltigen Betrieb sicherzustellen.
Momentum für die Zeit nach Corona nutzen
Die Chance für die Lieferdienst-Plattformen ist der lokale Zusammenhalt und Gemeinsinn, der in Zeiten von Corona entwickelt wurde und den die großen Anbieter von außen nicht ohne Weiteres kopieren können, ohne ihre eigenen Stärken aufzugeben. Mit der Hilfe lokaler IT-Dienstleister kann eine Erweiterung der Plattformen um digitale Dienste starten, die Mehrwerte für Kunden und Händler erzeugen. Im Münsterland ruft derzeit ein Konsortium aus mehreren E-Commerce und Logistik-Unternehmen in einer Pro Bono Initiative die Open-Source Plattform Downtown.shop ins Leben. Die Initiatoren hoffen, dass Gemeinden und Städte die Plattform für ihre bestehenden Projekte übernehmen und bereit sind, Händler aus ihrem Netzwerk auf die Plattform aufzusatteln. Auch kommerzielle Softwareanbieter und Startups haben auf die Krise reagiert und bieten derzeit viele kostenlose Rabatte an. Die digitale Gutscheinplattform #gutscheinehelfen von Zmyle ist schon in über 20 Städten im Münsterland verfügbar. Das Startup hat in Zeiten von Corona alle Gebühren für Händler ausgesetzt.
Plattformbusiness für Neueinsteiger ist hart. Durch Netzwerkeffekte ist eine Konzentration auf wenige Plattformen zweckmäßig und überlebensnotwendig. Beim WirVsVirus-Hackathon der Bundesregierung haben dennoch über 400 Teams auf Plattformkonzepte gesetzt. Viele Projekte wie Small Business Hero, Locali, und Support my Locals bemühen aktuell stark darum, Händler, Gastronomen oder andere Interessengeber auf ihre Plattform zu bekommen. Für gemeinnützige Hackathons ist es keine einfache Aufgabe die vielen ähnlichen Ideen zusammenzuführen, damit sie ihr volles Potenzial entfalten können. Die Zusammenarbeit mit technisch versierten Entwicklern aus der Zivilgesellschaft kann gestärkt werden, indem bestehende Lösungen aufgriffen und zum Beispiel als Open Source weiterentwickelt werden. Genauso kann das Aufgreifen von bestehenden Geschäftsmodellen helfen, Entwickler-Ressourcen zu bündeln und zugleich Menschen mit Verantwortungsgefühl und Unternehmertum für die Projekte zu aktivieren.
Ich bin überzeugt, dass diese anspruchsvolle Aufgabe nur gelingen kann, wenn möglichst viele lokale Akteure am gleichen Strang ziehen. Absolut notwendig ist daher auch eine übergreifende Zusammenarbeit der Kommunen und gemeinsamen Initiativen, um Netzwerkeffekte zu bündeln bei gleichzeitiger Erhaltung der lokalen Verbundenheit. Aufgrund vieler Partikularinteressen der Initiatoren ist das alles andere als leicht. Wenn alle den Kundennutzen ins Zentrum des eigenen Tuns stellen, sind vielversprechende digitale Geschäftsmodelle zur Stärkung lokaler Händler aus dem Momentum der Coronakrise heraus nun machbar.
Das „Machen“ wird einem niemand abnehmen
Die Coronakrise katapultiert Wirtschaft und Arbeitswelt mit großer Kraft in das digitale Zeitalter. Als eines von 26 Mittelstand 4.0-Kompetenzzentren des Bundes unterstützen wir Unternehmen bei der Durchführung digitaler Umsetzungsprojekte. Aber es letztendlich machen und mit Begeisterung leben müssen die Unternehmen immer selbst. Ich hoffe, dass viele Unternehmen die notwendigen Rücklagen haben, um nun freigewordene Ressourcen für digitale Qualifizierung und Innovationsprojekte zur Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle einzusetzen. Es wäre eine gute Investition in die Zukunft.
Sebastian Köffer
Titlebild: „Foto: Presseamt Münster / Tilman Roßmöller“