Die Krise als Chance: Überwinden entfremdeter Arbeit

15. April 2020

Einleitung
Die Corona-Pandemie teilt derzeit hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Implikationen die Erwerbsbevölkerung in vier Gruppen: einige verlieren ihren Job, z.B. liquiditätsschwache Startup-Entrepreneure; andere bangen um ihre Existenz wie Handwerker oder Restaurantbesitzer, da sie während des Lockdowns keinen Umsatz generieren, aber gleichzeitig Kosten bedienen müssen. Eine dritte, damit verglichen privilegierte Gruppe kann ihrer Arbeit mit mehr oder minder grossen Effizienzeinbussen im Home Office nachgehen, darunter auch dieser Autor, der als Assistenzprofessor online unterrichtet und forscht sowie ebenfalls mit dem Computer und virtuellem Anschluss seines Teams sein Software/KI-Unternehmen voranbringt. Die vierte, als systemrelevant bezeichnete Gruppe von Erwerbstätigen vollrichtet hingegen ihre Arbeit nach wie vor am Arbeitsplatz, muss aber bestimmte Sicherheitsvorkehrungen wie etwa Sicherheitsabstand zu anderen beachten. Interessant (begrüssenswert) ist in diesem Zusammenhang, dass der Begriff der Systemrelevanz gegenüber der letzten globalen Krise von 2008 eine krasse Ausdehnung erfahren hat. Um es etwas überspitzt auszudrücken: Während vor 12 Jahren gierige Banker ihre Fehler auf die Allgemeinheit abgewälzt haben, gehen heute medizinisches Personal, Supermarktmitarbeiter, Infrastrukturdienstleister und viele mehr persönliche Risiken ein, um andere zu schützen und, mehr noch, die Zivilisation aufrecht zu erhalten.

Jede dieser Gruppen respektive die Einzelfälle dahinter hat mit ihren eigenen, teils spezifischen Problemen zu ringen. Was ihnen gemein ist, ist die Affektierung durch eine dominante Auswirkung der Pandemie auf der ökonomischen Makroebene, nämlich das Stocken der einer Steigerungslogik folgenden Wirtschaft, deren Überwindung wiederum sich vielleicht als zentrale Herausforderung der Spätmoderne ergibt.

Die Irrationalität der blindlaufenden modernen Eskalationslogik
Man kann sich fragen, warum wir die Isolation infolge der Massnahmen gegen die Virus-Verbreitung nach kurzer Zeit als bedrückend erleben. Naheliegenderweise könnten wir den Menschen als soziales Wesen, als Zoon politikon bestimmen; doch vielleicht greift das zu kurz. Denn wenn wir auch vor Corona immer wieder beobachten konnten, dass wir dazu neigen, alle (spontan) entstehenden zeitlichen Freiräume mit neuen Verpflichtungen, Aufgaben und Aktivitäten zu füllen, und schon fast notorisch zu unseren Handys und gadgets greifen, sobald wir einen Moment mit uns alleine und entpflichtet sind, so könnten wir dadurch unbewusst einer Logik Geltung verschaffen, welche unsere Erwartungen an ein gutes, erfülltes Leben panisch auf die Zukunft verschiebt: Wir akzeptieren es, in der Erwerbszeit Ressourcen zu jagen, Termine zu erfüllen und To-do-Listen abzuarbeiten, statt uns an der Welt abzuarbeiten (wodurch sich nach Georg Simmel erst die menschliche Seele formt), und legitimieren das insofern, dass wir «danach» gesichert zu dem kommen, was wir «eigentlich» wollen und sind. Dieses «später» könnte aber jetzt in der Krise und der damit einhergehenden Entschleunigung der Wirtschaft, also im Pausenmodus zumindest vorübergehend direkt greifbar sein, nur überfordert diese Chance nicht wenige, da man vor lauter Arbeiten zuvor vielleicht noch keine Antwort darauf hat, wer man eigentlich ist oder was man eigentlich will.

Das Perverse oder Irrationale einer auf Steigerung oder Reichweitenvergrösserung angelegten Handlungsstruktur ist, dass die Anstrengungen von heute keine nachhaltige Erleichterung für morgen bedeuten, sondern eine Erschwernis und eine Problemverschärfung: Je stärker die Ökonomie in einem Jahr wächst, je produktiver wir sind und je schneller wir werden, umso schwerer wird es im darauffolgenden Jahr diese Leistung zu überbieten und dabei noch möglichst die Steigerungsraten zu halten. Dieses Vorhaben wird durch Corona für 2020 voraussichtlich nicht nur vereitelt, sondern die gesamte Logik wird durchbrochen. Statt Erfüllung in einem unerwartet eingetretenen Zustand der Musse zu finden, ergreift viele die Panik davor, dass das Schweigen anhalten könnte, dass die eigene innere Stimme und die Stimme der Welt verstummt ist oder bleibt. Dann erst wird das traurige Ausmass der spätmodernen Weltverhältnissen inhärenten Entfremdung spürbar. Oder in den starken Worten von Erich Fromm: «Das Problem des neunzehnten Jahrhunderts war, daß Gott tot ist [Nietzsche]; das Problem des zwanzigsten Jahrhunderts ist [schliessen wir die zwanzig Jahre gerne ein], daß der Mensch [seelisch und emotional] tot ist

Nicht die ToDo-Liste zählt, aber eine fühlbare Vision einer anderen Form der Weltbeziehung für eine Verbesserung ihrer Modi der Weltverarbeitung
Die Herausforderung ist beschrieben, aber welche positiven Lehren können wir ziehen, gerade auch im Zusammenhang mit Digitalisierung, die uns prägt. Speziell eine Analogie von der Arbeitswelt zu KI bietet sich an und so müssen wir erkennen, dass auch letztere häufig krude nach alter, eng ausgelegter Produktivitätslogik eingesetzt wird. So wie nach neuen Rekorden trachtendes Hamsterraddrehen letztlich unbefriedigend ist, verhindert vielleicht auch KI im Sinne der Produktivitätslogik letztlich Innovation, weil sich das Vorgehen vor allem auf den Ersatz menschlicher Arbeitskraft für Produktionsabschnitte oder einzelne Dienstleistungsaufgaben richtet.

Produktivität und Innovation sind zwar nicht unbedingt ein Gegensatzpaar, aber die erste Priorität sollte auf Innovation und purpose liegen: Wie kriege ich das, was sinnvoll und gesellschaftlich gewünscht ist, wertschöpfend hin? Es sollte vielleicht Teil jeder Erwerbstätigkeit werden, darüber nachzudenken, was dieser Beruf eigentlich sein soll. Man kann es sich etwa in einem unternehmerischen Geist zur Aufgabe machen, sich in seinem Job immer wieder überflüssig zu machen. So erarbeiten wir uns den nächsten Job und gestalten Innovation. Dabei sollten nicht bloss Tech-Unternehmer und die Elite der digitalen Ära diese Anstrengungen unternehmen. Zur Vermeidung gesellschaftlicher Spannungen und eines Auseinanderdriftens von Gesellschaftsschichten sollte es eine breitere Aufgabe werden, da sich sonst das veritable Risiko manifestiert, dass die neuen wirkungsmächtigen Technologien nur oder primär einer privilegierten Klasse offenstehen, die ohnehin gut situiert, besser gebildet und vermögender ist und dann noch leichter auf Ressourcen zugreifen könnte. Holistisches Nachdenken über Innovation, d.h. mit Erfassung der Wechselwirkungen zu anderen und der Welt sowie mit strategischer Weitsicht ist ein allgemeiner Appell, wiewohl Nachdenken auf den ersten Blick nicht Produktivität ausmacht. Die aber bricht dann ein, wenn ich von einem Tag auf den nächsten überlegen muss, wie ich Mitarbeiter qualifiziere, deren Jobs sich durch einen Schock wie Corona verändern – oder doch wegfallen, weil die Weiterentwicklung des Stellenprofils und/oder die Weiterbildung der Mitarbeiter nicht funktioniert.

Schliessen möchte ich mit einem gemeinhin Antoine de Saint-Exupéry zugeschriebenen Bonmot: Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.

Über den Autor

Christian Hugo Hoffmann ist Mitbegründer des Risikomanagement-Softwareunternehmens Syntherion, sowie Assistenzprofessor für Finance und Fintech an der Universität Liechtenstein. Weiter wirkt er etwa als stellvertretender Direktor des Swiss Fintech Innovation Lab an der Universität Zürich sowie als Direktor von Startup Grind in Genf. Zudem ist er als Autor von Fachbeiträgen zu KI, Risikomanagement und Unternehmertum tätig.

Titelbild: Henrik Donnestad

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