Wie profitieren die Dörfer von Corona?

8. April 2020

Im ersten Beitrag vertritt Gerald Swarat den Standpunkt, dass Deutschland gerade jetzt auf die Kraft gesellschaftspolitischer Visionen und positive Narrative setzen muss- beginnend mit Bildung & lebenslangem Lernen. Und zwar in den ländlichen Räumen! Denn nichts eint die Menschen mehr als gemeinsame Probleme.

Wie profitieren die Dörfer von Corona?

The past is written, but the future is left for us to write. We have powerful tools: openness, optimism, and the spirit of curiosity. All they have is secrecy and fear. And fear is the great destroyer.
(Star Trek: Picard S1.Ep8: Broken Pieces)

Manche Schätzungen sprechen weltweit von einer Steigerung der Arbeitslosenzahlen von bis zu 25 Mio. aufgrund der Covid-19-Krise.1 In den USA stiegen in der vergangenen Woche die Antragszahlen für Arbeitslosenhilfe um 6,6 Mio. an.2 Auch wenn die Soforthilfen der Bundesregierung dem Dienstleistungs-, und Exportsektor in Deutschland vor der großen Katastrophe rettet, ließe sich doch gerade jetzt antizipieren, dass wir nicht mehr genug Erwerbsarbeit für alle Menschen haben (jedenfalls nicht in der Form, in der sich “Arbeit” zurzeit noch definiert) und das betrifft zum großen Teil die ländlichen Räume. Kann diese Krise nicht auch eine Chance sein für mehr Bildung und lebenslanges Lernen auf kommunaler Ebene? Für mehr psychische Gesundheit in nervösen und unsicheren Zeiten? Für mehr Zufriedenheit und persönliche Resilienz? Und warum bilden Schulen und Berufsschulen genau für die Jobs aus, die es in Zukunft nicht mehr gibt? Also bitte: Warum gehen wir das nicht schleunigst an, dass jetzt erst recht alle Interessierten eine Möglichkeit erhalten, sich kostenfrei online weiterzubilden in Verbindung mit betrieblichem Coaching im Sinne von #newwork von Frithjof H. Bergmann? Sollten nicht möglichst viele die Chance haben, mit ihren Talenten und Ideen sinnstiftende Tätigkeitsfelder zu finden neben der klassischen Erwerbsarbeit, die bislang kaum interessierten oder sie sich nicht trauten, auszuleben? Wer weiß, ob nach der Krise all die Jobs im produzierenden Gewerbe nicht durch effizientere Roboter ersetzt werden oder die einfachen „Bildschirmhintergrundjobs“ (wie Gunter Dueck sie nennt) durch algorithmische Entscheidungssysteme auf Basis maschinellen Lernens viel besser erledigt werden.

Sicher, das geht auch alles in den Großstädten, aber jetzt ist eine Chance, die Regionen zu einer wirklichen Alternative zu machen. Noch nie waren die Voraussetzungen so gut, denn immer mehr Studien zeigen, dass Familien zum Großteil aufs Land ziehen wollen. Zeitgleich bezieht sich eine Vielzahl an Förderprogrammen der Bundes- und Landesebene mit Themen der Daseinsvorsorge oder des Gemeinwohls explizit auf die ländlichen Räume oder lässt sich darauf anwenden. Mit Hilfe dieser großen Projekte können die Kommunen auch auf eine Vielzahl an potenten Partnern aus Wissenschaft und Politik zurückgreifen, was ihnen ohne die Förderung nicht möglich wäre und innovative Ideen in allen Lebensbereichen ausprobieren. Und nicht zuletzt werden die wirtschaftlichen Folgen der COVID-19-Krise auch in prosperierenden Großstädten deutlich heftiger ausfallen als in den ländlichen Regionen. Ganz abgesehen davon, dass sich alle Familien in Innenstadtlagen wohl gerade nichts sehnlicher wünschen, als einen Garten oder Wald, Wiese und Fluss in nächster Nähe zum Spielen. Der Balkon mit Blick auf das SO36 hilft halt nicht über den gesperrten Spielplatz hinweg.

In der aktuellen Krise liegt also auch eine enorme Chance verborgen, denn nichts eint die Menschen mehr als gemeinsame Probleme. Diesen Effekt gilt es für soziale Innovationen zu nutzen. Konsequentes Umsetzen führt zu tatsächlichen Mehrwerten im täglichen Leben der Menschen: Denn ist die Pandemie erst vorbei, wird sich der hochnervöse Hype-Cycle zur nächsten Schocknachricht weiterdrehen. Wenn der Fokus auf gemeinwohlorientierte Innovationen durch ein starkes Engagement der Kommunen und der zivilgesellschaftlichen Akteure unterstützt wird, dann werden wir viel Zusammenhalt und eine Neubesinnung von Gemeinschaft und Solidarität erleben. Und das wird zuallererst in den kleineren Strukturen außerhalb der großstädtischen Ballungszentren funktionieren. Denn in den Dörfern findet die Schicksalsgemeinschaft schneller einen gemeinsamen Nenner, während in der Stadt immer noch die Eltern, der auf Globalisierung und Ellbogenkampf getrimmten Individualisierungskinder, über Impfpflicht streiten.

Gerade außerhalb der Großstädte lässt sich jetzt viel bewegen, was im Angesicht der politischen Radikalisierung und des Vertrauensverlustes, den die Menschen insbesondere in den ländlichen Regionen offenbar gegenüber ihren politischen Repräsentanten schon bevor Corona empfanden, wichtiger denn je erscheint.

Worauf sollten die ländlichen Regionen setzen?

Das Ziel der Regionen darf und muss es jetzt sein, Strategien zu entwickeln, die sich von den Großstädten unterscheiden. Kommunen in ländlichen Räumen sollten schon mal nicht alle parallel an Datenplattform-Architektur-Konzepten arbeiten und unabhängig voneinander versuchen, technologische Probleme zu lösen, die es ohne sie nicht gäbe. Sie sollten stattdessen die Probleme der Menschen vor Ort lösen. Das ist vielleicht auch einfacher, da sie nicht zwangsläufig im Interesse der großen Konzerne stehen, die ihre Lösungen eher in Berlin, München oder Hamburg testen wollen. Sie sollten nicht auf autonome Shuttles und die OZG-Umsetzung warten. Sie können sich auf das konzentrieren, was ihren Kern betrifft: sich für das Gemeinwohl einsetzen und passgenaue Lösungen gemeinsam mit der örtlichen Gemeinschaft entwickeln! Echte Partizipation ist obligatorisch, denn die gemeinsame Bestandsaufnahme und die Entwicklung von Ideen sind eine Grundlage jeder erfolgreichen digitalen Transformation. Die ländlichen Kommunen müssen Gestaltungsräume schaffen, in denen das möglich ist – und in denen Innovationen gedeihen, wo Neugierde und Partizipationsbereitschaft belohnt werden. Denn die 1,3 Verwaltungskontakte pro Jahr werden keinen Ausschlag zur Wohnortentscheidung einer Familie geben. Consulter sollten aufhören, den Menschen zu verkaufen, dass sie im Mittelpunkt stünden, nur weil der alleinerziehende Vater jetzt statt Papier eine PDF oder einen Web-Antrag zur Behörde schicken kann, um die Ablehnung für das Wohngeld zu erhalten. Und zwar OHNE jedes persönliche Gespräch, weil doch das algorithmische Entscheidungssystem schließlich eine Empfehlung ausgespuckt hat, die der Sachbearbeiter aufgrund fehlender Zeit und Knowhow nicht einordnen kann und Ermessensspielräume wahrzunehmen nie gelernt hat.

Bildung und Lernen in den ländlichen Regionen

Die meisten der in der Einleitung zur Blogparade aufgeworfenen Fragen sind Teil der allgemeinen Bildung, die sich mit dem Verhältnis des Menschen zur Welt und die Wege des Umgangs des Menschen eben mit ihr thematisiert werden. Gerade die ländlichen Kommunen, die darauf angewiesen sind, dass möglichst viele Menschen aktiv mit ihren Talenten ihr Umfeld mitgestalten, sind aufgerufen, sich mehr um die grundlegende Kompetenz ihre Bürgerschaft zu kümmern, die notwendig ist, um an der Welt und Weltgestaltung kompetent teilzuhaben. Dazu gehört die Bereitschaft und Fähigkeit, sich in neue Themen einzuarbeiten. Aktuell ist jedoch ein Großteil dessen, was gerade unter digitaler Bildung diskutiert wird, spezialisierte Probleme, wie z.B. die Frage, ob jeder programmieren können muss. Bildung und Lebenslanges Lernen in einer digitalisierten Welt bedeutet aber gerade NICHT, gezwungen durch äußeren Druck an Effizienz zu gewinnen, sondern die Menschen zu befähigen, Digitalisierung als Verstärker der eigenen intrinsischen Motivation zu verstehen. Lebenslanges Lernen sollte also nicht dazu dienen, den Maschinen hinterher zu eifern, sondern die Menschen dazu ermutigen und ermächtigen, herauszufinden, was sie wirklich mit ihrem Leben anfangen wollen. Es soll dazu dienen, nach einem Leben voller Jobs, endlich die Berufung zu finden.

Die Kommunen in den ländlichen Räumen sollten sich ermutigt fühlen, sich im Bereich von Bildung und lebenslangem Lernen nicht auf Infrastruktur und Ausstattung zurückzuziehen. Es geht wie in allen kommunalen Handlungsfeldern um die Entwicklung eigener Konzepte. Aber man muss nicht alles neu erfinden, sondern kann sich an internationalen Vorreitern orientieren. Es geht darum, ein hochwertiges und differenziertes Bildungsangebot aufzusetzen, dass keine Redundanzen schafft, aber einen regionalen Anlaufpunkt. Denn niemand ist näher an den Menschen und an den Bildungsangeboten als sie. Eine sinnhafte Steuerung der Bildungszugänge vor Ort fehlt jedoch meistens und so gibt es ein Missmanagement an Bildungsinstitutionen und -angeboten, die sich häufig nicht ergänzen, sondern parallel im Wettbewerb zueinander mit Doppelstrukturen bestehen und wenig Qualitätssicherung unterliegen. Das ist vielleicht ein Grund, weshalb Bildung und lebenslanges Lernen so selten ein Thema in der Stadt- und Regionalentwicklung ist. Dabei ist Bildung der Motor schlechthin, um die Wettbewerbsfähigkeit der Kommune als Wirtschaftsstandort zu sichern, um junge Fachkräfte zu halten oder anzuziehen, um Älteren die Chance zu erhalten, sich weiter zu qualifizieren und um Zugezogene bestmöglich zu integrieren oder einfach selbstbestimmt zu leben. All das zahlt auf die Resilienz der Kommune ab und ist also Kern der Regionalentwicklung.

Und ja, ich habe auch konkrete Beispiele anzubieten: Ideal wäre, wenn es überall einen Lerncampus oder eine Dorf-Uni wie in Osterholz-Scharmbeck und aktive SENIORtrainierInnen wie in Schleswig-Holstein gäbe, die neben der leidigen Diskussion, welche Bildungsplattform nun genutzt werden soll, lebenslanges Lernen und Kollaboration zum Leben erwecken und im Internet aktiv gestalten. Spätestens seit den Erfahrungen mit dem #WirvsVirus-Hackathon muss es allen klar sein: Ein Verschwörhaus wie in Ulm und Hackdays wie in Moers sind Goldstandard beim Community-Building, ohne dass jede zivilgesellschaftlich getragene digitale Transformation zum Scheitern verdammt ist. Es gibt nun die technischen Möglichkeiten, um Menschen mit ihrer Kompetenz und ihren Bedürfnisse über digitale Plattformen miteinander zu vernetzen und zusammenbringen – nutzen wir diese Chance insbesondere in den ländlichen Räumen!

Dörfer setzen auf Visionen!

Die ländlichen Regionen sind viel näher dran, eine Vision realisieren zu können, die die Städter*innen staunen lässt. Eine Vision, in der eine Stadtgesellschaft mit allen, ja auch jung, ganz alt und ganz besonders Frauen die folgenden Antworten gestaltet: Wie wollen wir in 30 Jahren leben? Wollen wir Dorfläden ohne Kassierer*innen? Soll die Bibliothek schließen? Wollen wir viel Geld für ein Theater ausgeben oder reicht doch Netflix? Eine Vision, in der die Menschen befähigt und befördert werden, ihre Stadt und Umwelt aktiv mitzugestalten. Visionen, wo die Menschen nicht nur sensorhaftes Objekt einer Mobilitäts- und Parkraumoptimierung sind.

Ich wünsche mir für die ländlichen Räume, dass ein sechs-Stunden-Tag eingeführt wird und die wertvolle freie Zeit gemeinwohlorientiert ausgefüllt werden kann. Etwa in der freiwilligen Feuerwehr oder mit Engagement im Stadteilmanagement, wofür häufig neben dem Pendeln zur Arbeit, Einkaufen, Kinder zum Sport oder Klavierunterricht fahren und Haushalt wenig Zeit bleibt. Erbringen nicht viele mittlerweile eine immens hohe Wertschöpfung, die sich mithilfe digitaler Anwendungen im Vergleich zu den 90er Jahren vervielfacht hat? Warum nicht die gewonnene Zeit dem direkten Umfeld und der Gesellschaft zurückgeben? Damit erobern sich die Menschen in Pendlerstädten ihre Schlaf-Stadt zurück und können Verantwortungsgefühl und Zusammenhalt, das in ländlichen Gemeinschaften zumeist stärker ausgeprägt ist, ausleben. Nicht zuletzt wird damit der “braunen Brut” der Nährboden entzogen, die davon gezehrt hat, dass sich immer mehr BürgerInnen ungehört, ungesehen und als Objekte der Stadt/Konzerne gefühlt haben und kein Vertrauen mehr in ihre demokratischen RepräsentantInnen entwickeln konnten. Anstatt auf Flugtaxis zu warten, könnte doch ein bedingungsloses Grundeinkommen, das gerade wieder hoch im Kurs ist, in Dörfern getestet werden. Neu ist das Thema jedenfalls nicht, denn bereits in den USA in den 70er Jahren gab es Versuche, die dann aber aus politischen Gründen beendet wurden. So ein Grundeinkommen müsste mit einem Fortbildungsguthaben kombiniert werden, denn dann haben die Menschen nicht nur genug Geld in der Tasche, sondern auch genug gute Ideen für den Tag – und ein in diesen Zeiten unschätzbares Gut: Sicherheit für die eigene Existenz. Eine weitere Möglichkeit ist, den Schulen zudem ein gewisses bedingungsloses Lehrguthaben zur freien Verfügung zu stellen und ihnen damit Gestaltungsspielraum zu geben. Das verstärkt deren Entfaltungstrieb, den sie oftmals erst in dieser Krisenzeit entdeckten.

Klingt doch eigentlich gut?

Klar, wissen die meisten, dass vieles eigentlich mal gemacht werden müsste, was eben ausgeführt wurde. Wenn wir doch nur wüssten, wer das „eigentlich“ umsetzt? Dafür ist jedoch keiner zuständig, wie Richard David Precht es mal in einem Vortrag sagte. Vielleicht ist auch das Wort „wissen“ das Problem. Lasst es uns doch einfach mal machen, denn wie Gerald Hüther sagen würde: Die neurobiologische Erkenntnis ist, dass wir anstelle des Wissens die Erfahrung setzen sollten.

Handlungsempfehlungen – was kann eine Kommune also Konkretes tun?

1. Macht die oder den BürgermeisterIn a.D. zum Glücksbeauftragten der Stadt, der mit seinen Netzwerken und Wissen viel bewegen kann.3
2. Je mehr Technologie, desto mehr Demokratie: In Barcelona waren 40.000 Menschen an der Erstellung des Regierungsprogramms beteiligt – und tatsächlich: Und jetzt stammen 70 Prozent aller Maßnahmen, die der Stadtrat behandelt von der Bürgerschaft.4
3. Auslobung eines Wettbewerbs kreativer, regionaler Ideen, die sich um digitale Kompetenz aktiv bemühen. Die Mittel werden nicht als Starthilfe ausgelobt, sondern in existierende, aktive Initiativen investiert, die sich aus der Zivilgesellschaft heraus bereits proaktiv engagieren.
4. Unterstützung beim Aufbau moderner Lernräume, wie z.B. von Makerspaces vor Ort / Coworking, die eine ko-kreative Zusammenarbeit heterogener Akteure vor Ort unterstützen. Kreative Hotspots in den Kommunen entdecken und digitale Treiber mit einbeziehen in die Strategien (auch wenn es nicht einfach ist).
5. Datenbasiertes Kommunales Bildungsmanagement aufbauen
6. Betrieb diverser kommunaler „virtueller Räume“ in verschiedenen sozialen Netzwerken, wie z.B. Whatsapp-Abo mit Bildungsnews (Vgl. Kurt Eisner-Projekt des Bayerischen Rundfunks); Instagram-Profil des Bildungsscouts, moderierte Facebook-Gruppe der regionalen Bildung-Initiativen.
7. Die Punkte 7 bis xx sind durch die Community und Bildungs-ExpertInnen fortzuführen.

Danke für Inspiration und Kritik an Anke Knopp, Anja C. Wagner und Christoph Meineke

Gerald Swarat

Fußnoten:

1. https://de.statista.com/infografik/21228/prognose-zum-anstieg-der-weltweiten-zahl-der-arbeitslosen-durch-die-corona-krise/

2. https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/coronakrise-6-6-millionen-arbeitslose-mehr-in-den-usa-in-einer-woche-a-69b5b65b-afb8-4d9b-8141-04eeb88193ec/

3. Vgl. Arbeitsgruppe Bildung der Initiative Digitale Region 2017: https://gerald-swarat.de/wp-content/uploads/2018/07/Digitale%20Region_Executive%20Summary.pdf

4. Vgl. ebd.

Foto: JFL Photography/Fotolia

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