Mit Bildung die Welt nachhaltig transformieren?

16. Dezember 2021

Ein Beitrag im Rahmen der aktuellen Co:Lab-Initiative Nachhaltig digital – digital nachhaltig

Einleitung

Nachhaltigkeit hat in der Bildung seit einigen Jahrzehnten Konjunktur: Kurse zu veganem Kochen, Nachbarschafts-Projekte zum Schutz des Waldes, Repair-Cafés, hybride Lehre anstelle von Präsenzlehre und mehr, sind nur einige der Angebote von Bildungsakteur:innen. Sie folgen damit dem Aktionsplan “Bildung für nachhaltige Entwicklung” des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF).

Ob Bildung zur nachhaltigen Entwicklung, die primär darauf abzielt, Menschen zu befähigen, zukunftsorientiert zu denken und zu handeln, zur Umsetzung dringend anstehender Transformationen ausreicht, ist allerdings zu bezweifeln. Denn Kompetenz lässt sich nicht nur über den Auf- und Ausbau individuellen Knowhows und subjektiver Fähigkeiten qualifizieren. Menschen lernen vor allem in der und durch die sie umgebende Kultur und Infrastruktur. Die Individualisierung systemischer Probleme über Bildungsangebote und das Vertrauen auf die unsichtbare Hand des Marktes über Angebot und Nachfrage wird der politischen Verantwortung nicht gerecht. Wir brauchen eine durchgehend nachhaltige Kultur in sämtlichen institutionellen Verfahren und Prozessen als Vorbild für die Etablierung alltagstauglicher Praktiken in den planetaren Grenzen.


Donut Ökonomie nach Kate RaworthDonut-Ökonomie von Kate Raworth “Die Donut-Ökonomie geht von einer Reihe planetarer und sozialer Grenzen aus. Zu den planetaren Grenzen zählen hierbei der Klimawandel und der Verlust der Artenvielfalt. Diese Grenzen dürfen nicht überschritten werden.

Zu den sozialen Grenzen zählen Bereiche wie Gesundheit und Bildung. Bei diesen Grenzen darf es kein Defizit geben.

Der in Form eines Donut visualisierte Handlungsspielraum für wirtschaftliches Handeln ergibt sich durch diese Grenzen.

Raworth stellt in ihrem Buch die Einhaltung des durch den Donut definierten Bereichs in der Donut-Ökonomie als alternative Zielvorgabe der bisherigen Zielvorgabe eines Wachstums des Bruttoinlandsproduktes in der traditionellen Wirtschaft gegenüber.”1


Dies beinhaltet die Entwicklung eines starken Bildungsrahmens für alle und bezieht das Thema Bildungsgerechtigkeit und kontinuierliche Anpassungsfähigkeit an die sich verändernden Strukturen mit ein. Den weltpolitischen Rahmen hierfür bieten unter anderem die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen. Bildung ist eines dieser Ziele (SDG 4) und kommt zusätzlich in vielen anderen Zielen zum Ausdruck. So ist zum Beispiel das SDG 8 (Gute Arbeit und Wirtschaftswachstum) eng mit dem Thema Bildung verwoben, da Aus- und Weiterbildung für die Aufrechterhaltung der Erwerbsfähigkeit elementar bedeutsam sind. Auch das SDG 11 (Nachhaltige Städte und Gemeinden) sollte eng mit einem regionalen Bildungsanspruch verbunden sein, schließlich lernen die Menschen von ihrer Umgebung und den alltäglichen Prozessen.

Die Arbeitsgruppe Bildung des Co:Labs arbeitet mit diesem Beitrag heraus, wie der Nachhaltigkeitsdiskurs im Bildungssystem vom Kopf auf die Füße gestellt werden könnte, indem vielfältige Potenziale der Aneignung und Mitgestaltung der heutigen Welt beleuchtet werden.2 Dabei steht der Mensch im Mittelpunkt, der sich in Zeiten stetigen Wandels immer wieder neu orientieren muss und vor allem ein “Recht auf Bildung” für sich beanspruchen darf. Dies ist in der Menschenrechtscharta formuliert und in dem grundlegenden Kommentar des Sozialpaktausschusses der Vereinten Nationen von 1999 grundsätzlich interpretiert worden:3

Das Bildungssystem hat sich an die veränderten Lebensbedingungen der Menschen anzupassen, nicht die Menschen an ein veraltetes Bildungssystem!

Unser Ziel ist es, auf einige Um- wie Abwege im aktuellen Bildungsdiskurs aufmerksam zu machen und aufzuzeigen, wie man diese konstruktiv bildungspolitisch auffangen könnte. Insofern verstehen wir diesen Beitrag als Aufschlag für weitergehende Diskussionen, nicht als abschließendes Dokument zur Weiterentwicklung unseres Bildungssystems.

Und als Disclaimer zur Einordnung dieses Papers: Vergleichbar zum Koalitionsvertrag stellt dieser Artikel einen Kompromiss der beteiligten Personen dar. Wir alle haben unterschiedliche Sichtweisen auf das Bildungssystem. Insofern stimmen nicht alle Mitwirkenden jeweils allen anderen Perspektiven entsprechend der Gewichtung zu, aber im Kern geht es darum, einen transformativen Sprung anzudeuten.

Kann auch Bildung nachhaltig sein?

Herausforderungen nachhaltiger Bildung im digitalen Zeitalter

Das Themenfeld “Nachhaltigkeit in der Bildung” wird meist mit der “Bildung für nachhaltige Entwicklung” (BNE) gleichgesetzt. Im vorherrschenden Bewusstsein gilt es, den Menschen die Notwendigkeit nahezubringen, die Endlichkeit des Planeten anzuerkennen. BNE adressiert entsprechend die individuellen Köpfe, die begreifen sollen, wie sie mit ihrer “Gestaltungskompetenz” (nach deHaan4) die Welt nachhaltig gestalten können. In diesem Denken wird auch auf die Bedeutung außerschulischer Lernorte (“Dritte Orte”) hingewiesen, in denen mit Kindern und Jugendlichen zu diesem Thema gearbeitet wird.

Nun könnten wir angesichts der breiten Unterstützung für “Fridays for future” die Frage stellen, ob es solcher Orte nicht vielmehr für die Erwachsenen bedarf, an denen ihnen nahe gebracht wird, dass es zur Bewältigung der Klimakrise etc. ein Umdenken braucht. Aber dies liefe auf eine Lernpflicht zu, die sehr pädagogisch daherkommt und kontraproduktiv wirken würde. Über klassische Wissensvermittlung lassen sich solche, in vielfacher Hinsicht existenzbedrohenden Themen nicht in die Bevölkerung tragen. Zumal wir angesichts der vielfältigen Proteste und der UN-Klimakonferenzen eine breite Berichterstattung in den Medien immer wieder vorfinden. Wir haben in der Mehrheit der Bevölkerung kein Erkenntnisproblem hinsichtlich dieses Themas, sondern (wie bei so vielem) ein Umsetzungsproblem.

Die Engführung der Bildungsagenda 2030

Der Aktionsrahmen der Bildungsagenda 2030 listet verschiedene Unterziele auf, deren Erreichung sicherstellen soll, dass bis 2030 für alle Menschen inklusive, chancengerechte und hochwertige Bildungsangebote zur Verfügung stehe. Außerdem sollen Möglichkeiten zum lebenslangen Lernen gefördert werden. Dies beinhaltet beispielsweise für das SDG 4 folgende Zielsetzungen laut BMZ5:

  1. Gleichberechtigter Bildungszugang für alle
  2. Zugang zu frühkindlicher Bildung, die auf die Grundschule vorbereitet
  3. Alle Mädchen und Jungen sollen eine kosten­lose, ge­rechte und hoch­wertige Grund- und Se­kun­dar­bil­dung ab­schließen
  4. Zugang zu hochwertiger beruflicher Bildung und Hoch­schul­bildung
  5. Mehr Jugendliche und Erwachsene sollen über Fähig­keiten für Be­schäf­ti­gung und menschen­würdige Arbeits­plätze verfügen
  6. Alle Jugendlichen und ein großer Anteil der Erwachsenen sollen Lese-, Schreib- und Rechenkenntnisse erlangen
  7. Alle Lernenden sollen Fähigkeiten für die Förderung der nachhaltigen Entwicklung erwerben

Das alles sind wichtige, auf die Zukunft ausgerichtete Anforderungen. Umsetzen können die Menschen sie jedoch erst im Rahmen eines großen und vor allem ernst gemeinten Transformationsprozesses. Dies alleine dem etablierten Bildungssystem zu übertragen, verkennt systemische Zusammenhänge und exponentielle Entwicklungen, die sich an der gesellschaftlichen Basis aufgrund der digitalen Möglichkeiten bereits vielfältig auftun. Auch ein nationaler Aktionsplan für mehr Bildung für nachhaltige Entwicklung in etablierten Institutionen greift da zu kurz.

So kreieren zwar nun Aus-, Weiter- und Fortbilder:innen in diesen Bildungseinrichtungen vielfältige Konzepte und realisieren Projekte, denen eines gemein ist: Über Nachhaltigkeit zu informieren und Menschen zu befähigen, nachhaltiger zu agieren.

Aber geht es darum wirklich?  

Geht es darum, zum Thema Nachhaltigkeit mit klassischen Formaten und durch Vermittlung von Wissen zu bilden? Wir alle wissen doch eigentlich, was Nachhaltigkeit bedeutet. Das muss uns nicht via Unterricht (Vortrag, Vorlesung, Workshop …) nochmals vermittelt werden. Muss es nicht vielmehr auch darum gehen, zu beachten, ob Bildungsangebote an sich nachhaltig und wirtschaftlich sind? Insbesondere in Zeiten, die geprägt sind von digitaler Transformation und Disruption in einer VUCA-Welt, mit dem Wegfall von Berufen und Arbeitsplätzen, da z. B. viele Tätigkeiten und Arbeitsprozesse automatisiert mit neuen Technologien, Robotern usw. erledigt werden können.6

Laufen wir nicht in eine Zukunft hinein, in der altes Wissen nicht mehr hilft, weniger Menschen arbeiten müssen, um die Wirtschaft am Laufen zu halten, und Wachstum zweifelhaft wird (Endlichkeit der Ressourcen)? Hinzu kommt, dass humane und finanzielle Ressourcen auch im Bildungssystem mangels Kooperation, Kollaboration usw. nicht eingespart werden, Projektergebnisse mit Fördergeldern erstellt wurden, die nach ein bis drei Jahren offline gehen, weil sie nicht mehr aktuell sind oder keine Einnahmen mehr generieren. Dadurch entsteht “digitaler Sondermüll” im Überfluss, anstelle von Re-/Upcycling bzw. der Aktualisierung eines Wissenskreislaufs, der an einem Strang zieht, statt in diverse Silos zu zerfallen.

Inwiefern helfen die hehren Ansprüche der Bildungsagenda der 17 SDG’s, die Menschen für eine sich (aufgrund vielfältiger Transformationen) radikal verändernde Welt  vorzubereiten und tatsächlich auszubilden? Bildungskonzepte können nur dann “greifbar” werden, wenn der Aktionsrahmen der Bildungsagenda inhaltlich messbar auf eine nachhaltige Entwicklung einzahlt. Viele Bundesländer haben seit 2015 ihre Curricula an die Bildungsagenda 2030 angepasst,7 aber das alleine reicht eben nicht aus!

Projekte als Mittel zum Selbstzweck

Die gesellschaftliche Ordnung des kapitalistischen Systems beruht auf Wertschöpfung, resultierend aus dem Zusammenspiel von Kapital, Arbeit und Natur. Es braucht mehr oder weniger qualifizierte Menschen, die sich in die gesellschaftliche Prozessgestaltung mit einbringen, um möglichst viel “Wachstum” zu generieren. Aus den Wachstumsgewinnen leitet sich die Fortschrittserzählung ab, dass es (unter dem Strich) früher oder später allen Menschen in der Gesellschaft besser geht. Zudem finanziert sich über die Erwerbsarbeitsleistung das soziale Sicherungssystem für diejenigen, die sich aktuell nicht (mehr) mit einer eigenen Erwerbstätigkeit einbringen können. So haben wir letztlich unsere Gesellschaft organisiert – und viele denken, dass es uns dabei sehr gut geht.

Um die Menschen für diese sozialrechtlich dringend erforderliche Erwerbsarbeit zu qualifizieren, braucht es Bildungsprozesse, die im 20. Jahrhundert gut optimiert und aufeinander abgestimmt wurden, sodass es in hiesigen Breitengraden ordentlich Brainpower gibt, die Innovation denken und für eine möglichst professionelle Durchführung sorgen kann. In logischer Konsequenz konstituierte sich rund um diese Bildungsprozesse eine Bildungsindustrie, die (sowohl staatlicherseits wie privatrechtlich getrieben) etablierte Bildungsinstitutionen ausprägte und für Kontinuität sorgte. Innerhalb dieser Institutionen arbeiten auch viele Menschen in unterschiedlichen Positionen, die wiederum mit ihrer Erwerbsarbeit einen Beitrag zur Funktionsweise des Sozialstaates leisten.

So weit, so gut.

Aufgrund der Bedeutung des Bildungssystems für den Wachstumsmotor in hiesigen Landen hat der Staat rund um die Bildungsindustrie ein Re-Finanzierungsmodell geschaffen, das aus vielzähligen Fördertöpfen besteht, aus dem heraus kleine wie große Bildungsinstitutionen oder -zusammenschlüsse bezahlt werden. Das hat zu Abhängigkeiten geführt, die mit der Entwicklungshilfe für die sogenannte Dritte Welt vergleichbar sind: Das Gros der Bildungseinrichtungen und -angebote ist von Förderinstrumenten und Geldzuflüssen abhängig, die der Staat (oder die EU) bereitstellt. In der Folge führte es dazu, dass, wer nicht als Souffleur:in in den entsprechenden staatlichen Gremien und Ministerien fungieren kann, maßgeblich von den avisierten Projektgeldern abhängig ist. Da diese aber wiederum nur befristet aufgrund der politischen Lenkung vergeben werden, befinden sich nahezu alle Bildungseinrichtungen in dem Hamsterrad. Sie müssen sich immer wieder nach Bewilligung der aktuellen Gelder auf den Weg machen, bereits die folgenden ins Auge zu nehmen, damit die Institution als solche nicht schrumpfen muss – und damit wieder Arbeitsplätze wegfallen.

Hinzu kommt, dass – aufgrund der fehlenden digitalen Verwaltung in deutschen Strukturen – der Hauptanteil der Arbeit nicht auf die Inhalte gelenkt wird, sondern die korrekte Projektabwicklung im Vordergrund steht. Folglich kommt es innerhalb der Einrichtungen weniger auf die inhaltliche Expertise an, sondern verstärkt auf die methodische, die das Projekt durchführt. Es wird also kaum die aktuelle Problemstellung adäquat bearbeitet, geschweige denn prognostisch eine transformative Lösung des Kernproblems adressiert. Die Transformation könnte (und würde) den Status Quo des mühsam etablierten Bildungssystems im Kern erschüttern und zerlegen, um es dann wieder neu auf einer (idealerweise) besseren Ebene zusammenzustellen. Mit anderen Worten: Niemand aus dem bestehenden System heraus hat daran ein Interesse! Und viele sind froh, wenn das Projektende naht. Dann kann man sich wieder neuen Themen widmen.

In der Folge haben wir es also mit einer Projektorientierung im Bildungssystem zu tun, in dem wahrhaftige, strukturelle Kollaboration oftmals unerwünscht und vielfältige redundante Systeme aufgesetzt werden. Nur über die Verteidigung des eigenen sozio-technologischen Systems lässt sich die Daseinsberechtigung vieler Bildungseinrichtungen mitsamt ihrem riesigen Wasserkopfverwaltungsapparat rechtfertigen. Und so folgt ein (Pilot)projekt auf das nächste, in dem zwar ausführlich dargelegt werden muss, dass die Nachhaltigkeit der entwickelten Strukturen gegeben ist, niemand aber sicherstellt, dass hier eine wirkliche Auswertung und transformative Zusammenführung der Ergebnisse erfolgt. Mit anderen Worten: Das Bildungssystem als solches arbeitet alles andere als nachhaltig im Sinne einer wahrhaftig nachhaltigen Entwicklung. Und die Frage bleibt bestehen, inwiefern überhaupt mittels diverser Pilotprojekte eine inkrementelle Verbesserung des Status Quo möglich ist.

Was bedeutet “nachhaltig” im 21. Jahrhundert?

Was verstehen wir also unter Nachhaltigkeit im 21. Jahrhundert, in dem wir vor gravierenden Veränderungen exponentiellen Charakters stehen, also die gesamte verfügbare kollektive Intelligenz darauf ausrichten müssten, die vorhandenen und zukünftigen Technologien für unsere Existenzsicherung zu nutzen?

Wenn wir also auch Bildung im Sinne einer zirkulären Ökonomie verstehen wollen, die ressourcensparend die Potenziale nutzt, welche uns als Volkswirtschaft zur Verfügung stehen, dann muss sich auch das bestehende Bildungssystem hinterfragen lassen!

Wie nachhaltig ist ein Bildungssystem, wenn …

  • keine Synergien geschaffen werden zwischen den Bildungseinrichtungen, mindestens einer Region, die sich als identitätsstiftend versteht?
  • Dienst- oder gar Flugreisen zu entfernten Konferenzen als gängiges Incentive einer Hochschulkarriere betrachtet werden?
  • Projekte durchgeführt, abgewickelt und dann wieder neu beantragt werden – mit leicht differenzierter Fragestellung?
  • Inhalte nicht nachhaltig digital verfügbar gemacht werden und dauerhaft öffentlich verfügbar sind?
  • Projektergebnisse kaum öffentlich nachvollziehbar (und das bedeutet allgemein verständlich) bereitgestellt werden?
  • zu viele Stellen kaum inhaltlichen Mehrwert für die Öffentlichkeit bringen?
  • zu langsame Anpassungsprozesse an die längst vorhersehbaren Dynamiken der digitalen Transformation stattfinden?
  • kaum Kollaboration gewünscht ist mit anderen Akteuren der Zivilgesellschaft?
  • zu wenige Lehrkräfte sich persönlich mit den Entwicklungen unserer Zeit beschäftigen und die Chancen der digitalen Vernetzung nicht optimal nutzen?

Es ist zwar löblich, wenn sich einzelne Bildungseinrichtungen in die Statuten schreiben, dass ihre Inhalte zu mindestens 25 % auf die Erzielung der 17 SDG-Ziele einzahlen (z.B. die TU Berlin). Aber könnten wir nicht noch mehr schaffen im Hinblick auf die definierten Artikel? Wir führen nachfolgend Beispiele entlang der SDG-Zieldefinitionen an.

SDG 4: Hochwertige Bildung

“Bildung ist ein Menschenrecht und Schlüssel für eine zukunftsfähige Entwicklung: Eine gut ausgebildete Bevölkerung ist Basis für die Bekämpfung von Armut und Ungleichheit, nachhaltiges Wirtschaftswachstum und gesellschaftliche Entwicklung. Bildung wirkt sich positiv auf die Gesundheit aus, stärkt die Rolle der Frau und ermöglicht gesellschaftliche und wirtschaftliche Teilhabe.”

So das BMZ.8 Und es klingt toll!

Nun können wir am Beispiel der gesellschaftlichen Stellung der Frauen recht schnell und deutlich die systemische Sackgasse des formalen Bildungssystems in Deutschland demonstrieren.

Abb. Frauen an den Hochschulen in Deutschland im Jahr 2020 – den Rest bis zu den 100 % bilden die Männer ab, Quelle: Statista 2021

Mehr Bildung und höhere Abschlüsse haben die letzten 100 Jahre kaum etwas an den tatsächlichen Machtverhältnissen verändert. Das ist bekannt. “Die Bildung”, wie sie sich historisch ausdifferenzierte, mit all ihren (meist männlich konnotierten) Fürstentümern und Silos, scheint kaum geeignet, im gesellschaftlichen Leben tatsächlich für mehr Chancengleichheit zu sorgen. Das Aufstiegsversprechen funktionierte in den letzten Wachstumsjahrzehnten einigermaßen, doch aktuell und zukünftig landen vor allem wieder Frauen trotz guter Ausbildung zunehmend in prekären Arbeitsverhältnissen und damit Armutsschichten.9 Das hat verschiedene Gründe.

Einer davon ist die Zertifikatshörigkeit und der Glaube, mit einem “ordentlichen” CV eines Fleißbienchens ergäben sich zwangsläufig adäquate Chancen. Die eigentliche Mechanik und Einstellungspraxis des heutigen Arbeitsmarktes wird dabei nicht kommuniziert: Es kommt zentral auf eine vielfältige, informelle Vernetzung, innere Stärke und zeitgemäße Digitalkompetenz an. Erst dann kommt die Fachkompetenz und der Erfahrungsschatz hinzu. Und ggf. der Mut, etwas Eigenes nachhaltig (!) zu schaffen, das am Markt gefragt ist.

Insofern sind die Maßnahmen zur Umsetzung der SDG’s durchaus lobenswert und für die sogenannte Dritte Welt als Grundlage wirklich relevant. Für die Industriestaaten sollte “die Bildung” komplexer gefasst werden, denn “mehr Bildung”, wie sie oft gefordert wird, kann individuell erfüllend sein, aber das Arbeits- und Aufstiegsversprechen erfüllt sich dadurch nicht zwangsläufig.

SDG 8: Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum

Damit sind wir beim Arbeitsmarkt angelangt. Auch dieser Artikel der Agenda 2030 steht für viele wichtige Zielsetzungen:

  • Die Wirtschaft in weniger entwickelten Ländern soll um mindestens sieben Prozent jährlich wachsen
  • Ein höheres Maß an wirt­schaft­licher Pro­duk­ti­vi­tät und den stärkeren Ein­be­zug von Frauen in das Wirt­schaft­ssystem
  • Verbesserter Zugang zu be­darfs­ge­rechten Finanz­dienst­leistungen für kleine und mittlere, ins­besondere frauen­geführte, Unternehmen
  • Stärkung der Kapazität inländischer Finanz­institutionen
  • Wirtschaftsleistung und Wohlstand vom Ressourcen­verbrauch entkoppeln
  • Menschenwürdige Arbeit und Voll­beschäftigung für alle erreichen
  • Abschaffung von Zwangsarbeit und Menschenhandel
  • Kinderarbeit bis 2025 beenden
  • Förderung von nachhaltigem Tourismus

Blicken wir kurz zurück: Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung wurde im September 2015 in New York von der Generalversammlung der Vereinten Nationen auf dem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung nach langjährigen Abstimmungsprozessen verabschiedet. Seit dem UNCED-Erdgipfel in Rio de Janeiro (1992) wurde Nachhaltigkeit bzw. nachhaltige Entwicklung als normatives, internationales Leitprinzip anerkannt und international diskutiert.

“Im Zentrum standen im Prinzip alle Lebensbereiche, insbesondere die Neuausrichtung von Produktion und Konsum in Richtung Nachhaltigkeit in den Industrieländern, sowie die Bekämpfung der Armut in den Entwicklungsländern.”10

Wenn wir uns dieses Wording anschauen: Alleine an den konkreten Ausformulierungen der “entwickelten” und “weniger entwickelten” Länder schwingt ein modernistisches Weltbild mit, das bis heute auf dem Fundament der Industriestaaten aufbaut: Menschen sollen immer gezielter möglichst in Vollbeschäftigung arbeiten, um wirtschaftliche Produktivität zu erzielen. Dieses Mindset der alten Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts drückt sich bis heute in den Verfügungen des politischen Betriebs aus – und dafür gelte es die Menschen aus- oder fortzubilden.

Das ist die Welt, die wir historisch geschaffen haben. Es ist aber fraglich, ob dieses Arbeitsverständnis einer nachhaltigen Entwicklung dem Sinne des originären Brundtland-Berichts entspricht:11

“Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der heutigen Generation befriedigt, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. Der Begriff beinhaltet zwei Schlüsselkonzepte:

Das Konzept der “Bedürfnisse”, insbesondere der grundlegenden Bedürfnisse der Armen in der Welt, denen oberste Priorität eingeräumt werden sollte, und

die Vorstellung von den Grenzen, die der Stand der Technik und der gesellschaftlichen Organisation der Fähigkeit der Umwelt auferlegt, gegenwärtige und künftige Bedürfnisse zu erfüllen.”

Wenn sich unsere Arbeits- und Wirtschaftswelt in den nächsten Jahren aufgrund der digitalen Transformation weiter so grundlegend verändert, wie vielfältig prognostiziert, dann stellt sich die Frage eines auskömmlichen Einkommens für alle entlang einer “Vollbeschäftigung” als Ziel des politischen Handelns als problematisch heraus. Der “Stand der Technik” ist nämlich weiter als die “gesellschaftliche Organisation”: Wenn wir manuelle Erwerbsarbeit lediglich generieren, um Menschen teilhaben zu lassen am wirtschaftlichen Fortschritt, dann wächst die Wirtschaft eben nicht entlang unserer grundlegenden Bedürfnisse, sondern lediglich als Mittel zum Zweck der Absicherung der einstmals geschaffenen sozialen Sicherungssysteme. Dies ist nicht nachhaltig auch im Sinne des Brundtland-Berichts.

Entsprechend sollte die bildungspolitische Organisation der “Workforce” eher nach “smarten” Kriterien denn nach Rentengesichtspunkten beurteilt werden. Die UNO-Mitgliedsstaaten jenseits der westlichen Industriestaaten sind diesbezüglich auch weiter. Die Themen, die ihrer Mehrheitsmeinung von 2017 nach am wichtigsten für einen nachhaltigen Entwicklungsprozess seien, in absteigender Priorität:

  1. Frieden
  2. Ernährungssicherheit und nachhaltige Landwirtschaft
  3. Wasser und Verbesserung der Hygiene
  4. Energie
  5. Bildung
  6. Armutsbekämpfung
  7. Gesundheit
  8. Mittel zur Durchführung des SDG-Prozesses
  9. Klimawandel
  10. Umwelt / Management natürlicher Ressourcen
  11. Beschäftigung

Wie wir sehen, wird “die Bildung” weiterhin als sehr zentral angesehen, neben der Absicherung fundamentaler Lebensprinzipien. “Die Beschäftigung” hingegen – als bisheriger Motor des wirtschaftlichen Wachstums in den Industriestaaten – wird auf dem letzten Platz angeführt. Vielleicht ist es nunmehr Zeit, auf intelligente Zukunftskonzepte zu setzen und Technologien als Mittel zum Zweck der Bedürfnisbefriedigung aller Menschen zu begreifen?!

Klar, Menschen haben ein Recht auf gesellschaftliche Teilhabe und Mitgestaltung. Dies wurde historisch aufgrund der Ausbeutung der Arbeitskraft ideologisch mit dem Recht auf “gute Arbeit” gleichgesetzt. Diese Zeiten gilt es zu überwinden.12 Wenn die manuelle Erwerbsarbeit nicht zur nachhaltigen Entwicklung beiträgt, muss die gesellschaftliche Organisation angepasst werden, z.B. über ein bedingungsloses Grundeinkommen und die Finanzierung über eine Robotersteuer o.ä.

Und damit sollte auch das Recht auf Bildung neu interpretiert werden – nämlich zu einem Recht, ein sinnvolles Leben auch jenseits der Erwerbsarbeit leben zu können.

SDG 11: Nachhaltige Städte und Gemeinden

Mit dem Ziel, Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig zu gestalten, setzt die Agenda 2030 ein Zeichen, auch kommunale bzw. regionale Kompetenzen zu bündeln, um die Herausforderungen der Zeit zu bewältigen. “Der Kampf um das Klima wird in Städten gewonnen oder verloren”, so die Generalsekretärin der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen, Patricia Espinosa.

Damit sind die Kommunen in der Pflicht, mit ihren Mitarbeiter:innen grundlegend nachhaltige Voraussetzungen für lebenswerte Städte zu schaffen und neue Arbeits- und Lernwelten für diese anzupassen. Insofern die Verwaltung ein wesentlicher kultureller Bildungsfaktor in einer sich transformierenden Welt ist, kommt deren Arbeitsprozessen und Wirkmechanismen eine erhebliche Bedeutung zu. Ein kommunaler Motor mit motivierten Angestellten und optimierten Arbeitsprozessen kann und muss eine Vorbildfunktion einnehmen für die Einwohner:innen, die in Kontakt mit diesen Schnittstellen kommen.

In diesem so verstandenen Sinne entsteht Nachhaltigkeit in den Kommunen durch klare Zeitpläne, Rollen und Verantwortlichkeiten sowie regelmäßige Überarbeitung auf Basis der Erkenntnisse aus dem Feedback von Mitarbeiter:innen, Familien, Schüler:innen und kommunalen Partnern. Eine intrinsische Motivation zur ständigen Weiterbildung muss hier intern vorgelebt und zu sichtbaren kontinuierlichen Verbesserungen führen. Nur so wird sich eine lebendige, resiliente wie nachhaltige Stadtkultur aufbauen, die sich immer wieder neu erfindet und transformativ regional wirken kann.

Was wir empfehlen!

Grundlegend

Das Rahmenprogramm für die Umsetzung von Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) für die Zeit über 2019 hinaus bringt es klar auf den Punkt:13

„Zuallererst braucht Transformation ein gewisses Maß an Disruption und Menschen, die bereit sind, ihre Komfortzone wie auch ihre gewohnten Denk- und Verhaltensmuster zu verlassen. Dies erfordert Mut, Durchhaltevermögen und Entschlossenheit​.“

Wie weiter oben bereits beschrieben: Wir haben grundsätzlich kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem. Und wir glauben im westlichen Denken zu sehr, die entscheidenden Veränderungen könnten von Einzelnen angestoßen werden, indem wir sie lediglich per Wissensvermittlung oder sonstigen Bildungsangeboten auf den rechten Pfad setzen. Den systemischen Aspekt des individuellen Handelns und die kulturelle Trägheit lassen wir gerne außen vor.

Dabei steht eine zentrale Forderung im Fokus: Das Bildungssystem gilt es grundlegend ans 21. Jahrhundert anzupassen:

  • Die Bildung vom Menschen her denken! Und das bedeutet in der Informationsgesellschaft mit radikalen Veränderungsschwüngen die Kompetenz in die Hände der Einzelnen zu verlegen statt per Micromanagement über traditionelle Bildungseinrichtungen bildungspolitische Angebote zu schnüren, die am realen Bedarf von morgen (!) vorbeigehen.
  • Digitale Bildung, die lediglich die alten Bildungsprozesse digitalisiert oder kompensiert, ist Teil des Problems und nicht der Lösung. Vom Einzelnen her gedacht müssen digitale Lernumgebungen der Ermächtigung dienen, nicht der Gängelung.
  • Ein Bildungssystem, das Nachhilfe selbstverständlich voraussetzt, ist ein überholtes System, das auf Standardisierung und nicht auf die Stärkung individueller Talente setzt.
  • Alle Menschen gleich welchen Alters und gleich, ob sie (noch) einer Erwerbstätigkeit nachgehen oder nicht, sind Adressat:innen einer zeitgemäßen Bildung. Es gilt von nun an, all jenen Menschen zwischen 3 und 123 Jahren gleichberechtigt einen “Zugang zu Bildung” zu ermöglichen. Darauf müssen sämtliche Prozesse ausgerichtet sein.
  • Eine nachhaltige Entwicklung braucht die kollektive Intelligenz aller interessierten Menschen. Diese muss gehoben, kollaborativ vernetzt und zielgerichtet auf die nachhaltige Lösung der Weltprobleme ausgerichtet werden. Das Bildungssystem muss hier bestmöglich und effizient unterstützen. Die meisten alten Bildungseinrichtungen müssen sich hinterfragen, ob sie für diese Zielsetzung noch eine Daseinsberechtigung haben – oder ob sie primär finanzielle Mittel verbraten, die gut anderweitig effizienter eingesetzt werden könnten.

Lernen in Beziehungen

Menschen lernen am besten in Beziehungen – das ist bekannt. Ob jung, ob alt, es braucht andere, an denen man sich reiben, mit denen man diskutieren und von denen man lernen kann.

Im VUCA-Zeitalter mitsamt den sich ständig verändernden Rahmenbedingungen bedeutet dies, ein stabiles soziales wie bildungspolitisches Fundament bereitzustellen. Nicht nur Kinder und Jugendliche benötigen zentrale Persönlichkeitsmerkmale und Beziehungsmuster – auch Erwachsene brauchen in zunehmend dezentralen, asynchronen, dynamischen Arbeitsumgebungen sozial-emotionale Fähigkeiten, um “den Laden zusammenzuhalten”.

Forscher:innen sind sich in diesem Zusammenhang darüber einig, dass bestimmte Schlüsseleigenschaften die Grundlage für die Aufrechterhaltung hochwertiger sozialer Beziehungen und für die Bewältigung der Herausforderungen des Lebens sind.

  1. Selbstbewusstsein:
  • Was sind meine Gedanken und Gefühle?
  • Was verursacht diese Gedanken und Gefühle?
  • Wie kann ich meine Gedanken und Gefühle respektvoll ausdrücken?
  1. Selbst-Management:
  • Welche unterschiedlichen Reaktionen kann ich auf ein Ereignis haben?
  • Wie kann ich auf ein Ereignis so konstruktiv wie möglich reagieren?
  1. Soziale Bewusstheit:
  • Wie kann ich die Gedanken und Gefühle anderer Menschen besser verstehen?
  • Wie kann ich besser verstehen, warum Menschen so fühlen und denken, wie sie es tun?
  1. Beziehungsfähigkeiten:
  • Wie kann ich meine Handlungen so anpassen, dass meine Interaktionen mit verschiedenen Menschen gut ausfallen?
  • Wie kann ich meine Erwartungen an andere Menschen kommunizieren?
  • Wie kann ich mit anderen Menschen kommunizieren, um ihre Erwartungen an mich zu verstehen und zu steuern?
  1. Verantwortungsvolle Entscheidungsfindung:
  • Welche Konsequenzen haben meine Handlungen für mich und andere?
  • Wie stehen meine Entscheidungen im Einklang mit meinen Werten?
  • Wie kann ich Probleme kreativ lösen?

Im digitalen Zeitalter sind diese Fragestellungen noch wichtiger als bisher geworden. Jede:r Leser:in ist eingeladen, die eigenen Antworten hierauf zu überprüfen.

Beziehungslernen ist also als integraler Bestandteil von Bildung und menschlicher Entwicklung der Prozess, durch den alle jungen Menschen und Erwachsenen das Wissen, die Fähigkeiten und die Einstellungen erwerben und anwenden, um

  • eine gesunde Identität zu entwickeln
  • Emotionen zu managen
  • persönliche und kollektive Ziele zu erreichen
  • Empathie für andere zu empfinden und zu zeigen
  • unterstützende Beziehungen aufzubauen und zu pflegen und
  • verantwortungsvolle sowie fürsorgliche Entscheidungen zu treffen.

Das soziale Umfeld ist dabei von zentraler Bedeutung – und damit kommen wir zur Verantwortung der (sozio-)kulturellen Bildung:

  • Familien sind ein wesentlicher Faktor bei der Kultivierung dieser Fähigkeiten während des gesamten Lebens eines Kindes.
  • Wenn Betreuungseinrichtungen, Schulen und Familien gut zusammenarbeiten und intensive Verbindungen aufbauen, können sie die Entwicklung dieser sozial-emotionalen Kompetenzen verstärken.
  • Neue Beziehungskulturen entstehen also nachhaltig nur dann, wenn sich zunächst die Erwachsenen mit den oben genannten Selbstreflexionen vertraut machen. Durch ihr eigenes persönliches Wachstum werden sie nach und nach immer besser in der Lage sein, Kinder und Jugendliche dabei zu unterstützen, diese Fähigkeiten zu entwickeln.
  • Dabei gilt es ältere Personen mit einzubeziehen, denn auch diese benötigen lebendige soziale Beziehungen und Anlaufpunkte, um sich weiterzuentwickeln und eine zeitgemäße Kompetenz mit aufbauen zu helfen.
  • Staatliche Programme sorgen in manchen anderen Ländern dafür, dass Schulen und Gemeinden dazu in der Lage sind, Eltern und Betreuende in Gespräche über das soziale und emotionale Wachstum ihrer Kinder einzubinden. Ein Beispiel hierfür sind die in den U.S.A. entwickelten C.A.S.E.L. – Programme. Das Rahmenwerk existiert in englischer und teilweise in spanischer Sprache und SEL-Programme gibt es mittlerweile in ca. 20 Ländern.

Schulbildung

Wie lässt sich messen, ob neue Bildungskonzepte auf die Ziele der Bildungsagenda 2030 abgestimmt sind und im Interesse einer nachhaltigen Entwicklung dienen? Und was ist neu an einem Bildungskonzept, wenn – wie mit dem DigitalPakt Schule – lediglich Fördermittel zur Anschaffung und Integration neuer Hard- und Software bereitgestellt werden?

  • Die Anzahl der verteilten Tablets an Schüler:innen ist kein Maßstab für den Stand der Digitalisierung in und an Schulen. Von zentraler Bedeutung ist vielmehr die Umstellung der Unterrichtsmaterialien auf digitale Medien und die Etablierung moderner, digital unterstützter Lernszenarien. Hier geht es nicht um eine 1:1 Abbildung des alten Lehrmodells. Die zusätzlichen Medienkanäle Audio und Video müssen hier ebenso integriert werden wie soziale, kollaborative Austauschformate und Diskursangebote. Vor der Investition in Hardware müssen diese Umsetzungen bereits projektiert sein.
  • Der Digitalpakt sieht zwar vor, dass Schulen die Fördermittel für die Technik nur erhalten, wenn sie ein entsprechendes pädagogisches Konzept einreichen. Damit sind viele Schulen überfordert. Kommunen sollten hier unterstützend eingreifen, um die digitale Entwicklung ihrer Region zu fördern. Dies wäre beispielsweise durch kommunale Ansprechpartner:innen zur Beratung der Schulen in Bezug auf deren IT-Ausstattung und die Entwicklung von pädagogischen Konzepten möglich. Was damit einhergehen muss, ist die entsprechende Qualifizierung der Lehrenden. Das ist derzeit noch ein schwieriges Thema, weil die Lehrer:innenausbildung reine Sache der pädagogischen Landesinstitute ist, und diese sind personalmäßig bundesweit ganz unterschiedlich aufgestellt. Auch in den Schulen selbst fehlen die entsprechenden personellen Ressourcen und die Bedarfe werden teilweise immer noch über den ehrenamtlichen Einsatz einzelner Lehrkräfte abgedeckt.
  • Bei der technischen Umsetzung der Digitalisierung sind dann auch Themen aus “Green IT” zu beachten. Es müssen digitale Geräte beschafft werden, die nachhaltig genutzt werden können. Eine Unterstützung der Geräte muss über 6 Jahre gewährleistet werden. Updates der Betriebssysteme und Security Updates müssen in diesem Zeitraum ebenfalls verbindlich zur Verfügung gestellt werden. Bei allen Investitionen sind die Wiederbeschaffungskosten (nach 6 Jahren) zu berücksichtigen. Nach der Anschubfinanzierung durch Land/Bund dürfen Folgekosten nicht bei den Kommunen hängen bleiben. Die Digitalisierung der Schule ist von übergreifender Bedeutung, weil die Entwicklung von neuen Unterrichtsformen damit einhergeht.
  • Tablets können als Ökosystem in jeden Haushalt mit Kindern hinein wirken. Dazu müssen die Lehrenden und multidisziplinären Teams besser ausgebildet werden, um systemisch zu wirken. So braucht es zum einen attraktive Fortbildungsangebote für Lehrende und Eltern und zum anderen auch verbindliche Zeitbudgets für Fortbildungen! 20 % der Arbeitszeit sollte von nun an allen Erwerbstätigen für die eigene Weiterentwicklung zur Verfügung stehen. Wir brauchen eine deutschlandweite Weiterbildungskultur auf sämtlichen Ebenen! So könnten die iPads z.B. auch für E-Government-Behördengänge genutzt werden. Auch dazu braucht es den Aufbau von digitalem Knowhow bei Eltern und ein kollektives Mitwachsen, was Security-Einstellungen und Sensibilisierung für digitale Dynamiken anbelangt. Hier könnten sicherlich “smarte” Anwendungen seitens der öffentlichen Hand sehr nutzerfreundlich, hilfreich und lehrreich sein.
  • Und wie bei fast allen IT-Themen kann auch hier ein Verweis auf die sog. “Digitale Souveränität” erfolgen. Bei den anstehenden Kaufentscheidungen für Hard- und Software könnte über das Thema Bildung eine entscheidende Weichenstellung erfolgen. Die Umstellung der IT in den Schulen ist sicherlich das größte IT-Projekt, das bisher von der öffentlichen Hand umgesetzt wurde. Die Investition in “Digitale Souveränität” wäre dann auch eine Investition in die Zukunftsfähigkeit der IT in der Europäischen Union. Und sollte Vorbildcharakter haben hinsichtlich eines niedrigschwelligen Nutzungsangebotes.14

Mit anderen Worten: Es stellt sich die Frage, wie die vorhandenen finanziellen Mittel für die Bildung15 sich sinnvoller und strategischer einsetzen ließen.

  • Und damit wären wir bei der Forderung einer aktualisierten Qualitätssicherung für das 21. Jahrhundert angelangt, die nicht nur auf von Expert:innen gestützte Validierungen von digitalen Bildungsmedien fokussiert, sondern den gesamten Anforderungskatalog einer Bildung für eine nachhaltige Entwicklung in den Blick nimmt. In Deutschland werden noch zu wenig die Potenziale kluger Technologieprozesse für die Bewältigung des Alltags genutzt. Technik muss den Menschen dienen – nicht umgekehrt. Oder um es kurz zu sagen: Die Maschine muss mehr lernen als die Menschen!
  • Nachhaltigkeit im Schulsystem bedeutet in der Konsequenz, einfache Fragen zu stellen, ob ein entsprechender Mehrwert entsteht:
    • Wird der jeweilige Unterricht in der Form verändert, dass alle Lernenden da abgeholt werden, wo sie stehen?
    • Erhalten die Lehrenden Möglichkeiten, ihre eigene Rolle im Unterricht neu und zufriedenstellend zu definieren?
    • Werden Lernende zu selbstorganisiertem Lernen angeregt und dadurch auf das lebenslange Lernen vorbereitet?
  • Synergieeffekte können nur wirksam werden, wenn der Föderalismus endlich abgeschafft und das Bildungssystem in eine zeitgemäße Matrixstruktur überführt wird! Durch die nachkriegsbedingte Institutionalisierung fließt zu viel Zeit und Geld in ineffiziente, doppelte Strukturen – und es fehlt an einer gesamtgesellschaftlichen, lernenden Organisation.
Exkurs: Einblick in andere Bildungssysteme am Beispiel von Finnland
In Finnland gibt es jährliche landesweite Evaluierungen der Lernergebnisse, mit dem Ziel, zu unterstützen, statt in Form von Schulinspektionen zu kontrollieren.

Staatlich vorgegebene Rahmenlehrpläne und Qualifikationsanforderungen sind die Vorgabe für eine einheitliche Unterrichtsstruktur in den ersten sechs Klassenjahren mit gleichbleibendem Klassenlehrer:innen, die lokal flexibel gestaltet wird. Basierend auf den Lehrplanzielen beobachten die Lehrpersonen ihre Schüler:innen kontinuierlich und bilden gemischte Lerngruppen, um sie angemessen zu fördern. Die Lernenden sollen Lernerfolge erzielen und Freude am Lernen haben.

Da der Lehrberuf in Finnland begehrt ist und ein hohes Ausbildungsniveau erreicht werden muss, werden für die Lehrer:innenausbildung übrigens nur ausgewählte Bewerber:innen zugelassen, die sich regelmäßig weiterbilden müssen.

Für die Erreichung der Lernplanziele gibt es landesweite Beurteilungsleitlinien und die Lernenden selbst werden angeregt, ihre Fähigkeit zur Selbstbeurteilung zu entwickeln. Ab Klasse 7 bis 9 kommen Fachlehrende hinzu. Die Absolvierung der Oberstufe erfolgt in modularen Kurseinheiten und kann in einem Zeitraum von 2 bis 4 Jahren abgeschlossen werden. Eine Kombination von gymnasialer Oberstufe und beruflicher Bildung ist möglich.

Die Hochschulreife zur Erlangung eines Bachelor-, Master-, Lizentiaten- oder Doktorgrades wird durch die Abiturprüfung oder eine mindestens dreijährige abgeschlossene Berufsausbildung erlangt. Zur Fachhochschule werden auch andere Bewerber:innen zugelassen, wenn sie die erforderlichen Fertigkeiten und Kenntnisse mitbringen. Generell gilt, dass bereits Erlerntes anerkannt wird und man so Überschneidungen in Bildungsgängen vermeidet. So können die Menschen ihre früher getroffenen Berufsentscheidungen auf einem höheren Level fortsetzen. Auf die Erwachsenenbildung wird großer Wert gelegt.16

 

Exkurs: Verbot von kommerzieller Nachhilfe in China
China hat im Jahr 2021 seinen wirtschaftlich ausgesprochen erfolgreichen Bildungsnachmittagsmarkt zerschlagen. Seit dem letzten Sommer ist Nachhilfe während der Ferien und an den Wochenenden grundsätzlich verboten. Kommerzielle Anbieter in diesem Bildungssektor müssen sich zudem als gemeinnützig deklarieren.

Hintergrund ist, dass die chinesische Führung die Bildung des Landes unabhängiger machen will vom Einkommen der Eltern und dem finanziellen Druck, der auf der aufstiegsorientierten Mittelschicht und deren Kindern lastet. So hoffen sie auf eine höhere Geburtenrate, wenn dieser Ausbildungsdruck nachlässt – und damit auf ein größeres volkswirtschaftliches Wachstum.

In der Konsequenz soll zukünftig die schulische Ausbildung dem Anspruch gerecht werden, das für den Hochschulzugang notwendige Knowhow innerhalb der Schulzeit zu vermitteln, sodass es keiner Nachhilfe mehr benötigt. Zudem soll der bislang finanziell attraktive Nebenerwerbsmarkt der besten Lehrenden damit untergraben werden.

Die unvermittelte Aktion hat Schätzungen zufolge bis zu 1,5 Milliarden US-Dollar an Aktienwerten vernichtet. Inwiefern diese Maßnahmen jedoch dem tatsächlichen Leistungsdruck zum Bestehen der Universitätseingangsprüfung (Gaokao) entgegenwirken, bleibt abzuwarten. Reichere Eltern werden sicherlich auch zukünftig Mittel und Wege finden, ihren Kindern einen erfolgreichen Start in die Ausbildung und das Berufsleben zu ermöglichen.17

 

Lebenslanges Lernen

Unsere Arbeitswelt unterliegt einem stetigen Wandel – dies gilt sowohl für Unternehmen als auch die (potenziell) Erwerbstätigen und die öffentliche Verwaltung. Die Corona-Pandemie hat uns vor Augen geführt, welch fundamentale Bedeutung einer handlungsfähigen und effizienten Gesellschaft zukommt. Und wie viele Schwachstellen eine nicht zeitgemäß digitalisierte Organisation unseres Lebens öffnet.

Zur Sicherung der gesellschaftlichen Handlungsfähigkeit im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung ist lebenslanges Lernen und der Aufbau einer komplexen digitalen Kompetenz wichtiger denn je, um den stetigen Wandel zu gestalten. Dies hatten wir oben bereits angeführt. Was braucht es dazu konkret?

  • Zunächst bedarf es passender Rahmenbedingungen, die lebenslanges Lernen für Menschen grundsätzlich ermöglichen und durchgängig unterstützen.
  • Es braucht aber auch die individuelle Bereitschaft, sich veränderten Bedingungen in allen Lebensbereichen zu stellen und damit sein Umfeld mitzugestalten. Dazu ist eine angstfreie Absicherung der Menschen sehr förderlich.
  • Es muss Common Sense werden: Schulische Bildung, duale Ausbildung oder ein Studium werden in Zukunft nicht mehr ausreichend sein. Deshalb benötigen wir zunehmend mehr und bessere Lernangebote im Bereich der Fort- und Weiterbildung, die sich auch jede:r leisten können muss, sowohl finanziell als auch zeitlich.
  • Im Zuge dessen müssen klassische Lernkonzepte angepasst werden, um digitales, zeit- und ortsunabhängiges Lehren und Lernen zu heben. Denn die klassische Präsenzlehre berücksichtigt zu wenig die unterschiedlichen Lernstile und Bedarfe der einzelnen Teilnehmenden. “Die Bildung” muss zu den Menschen gehen, nicht die Menschen “zur Bildung”.
  • Aber auch reine E-Learning Angebote („on-demand“), in denen die Teilnehmer:innen Videos und Lernmaterialien auf Abruf konsumieren, genügen nicht den pädagogischen Anforderungen. Gleichwohl bieten sie intrinsisch motivierten Lernenden eine Anlaufstelle, um sich selbstbestimmt weiterzubilden. Das muss den Menschen bewusst sein.
  • Es braucht mehr Lernkompetenz auf Seiten der Lernenden. Lernen zu lernen in sich stetig verändernden Ausgangssituationen ist eine zentrale Fähigkeit und Voraussetzung für resiliente Menschen, damit sie sich in Umbruchsituationen weiterentwickeln können. Dazu braucht es auch qualifizierte wie professionelle Lerncoaches, an die sich Lernsuchende bei Bedarf wenden können.
Exkurs: Kompetenzzentrum zur beruflichen Anerkennung in Österreich
Die Österreichische Jungarbeiterbewegung (ÖJAB) ist ein gemeinnütziger Verein und Heimträger von 21 Studierenden- und Jugendwohnheimen, einer Generationen-Wohngemeinschaft und einem interkulturellen Wohnheim in Österreich. Mit dieser Infrastruktur stellen sie jungen Menschen ein Zuhause am Ausbildungsort zur Verfügung, bieten zudem stationäre und mobile Pflege für Ältere an und sind in den Bereichen Bildung, Integration, Flüchtlingshilfe und Entwicklungszusammenarbeit tätig.

So werden am Berufspädagogischen Institut (BPI) der ÖJAB vorhandenes Wissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten und mitgebrachte berufliche Qualifikationen von Teilnehmer:innen erhoben. Das Ziel ist, den Menschen einen schnelleren Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Aus- und Weiterbildungen zu erleichtern, ohne dass sie eine anerkannte berufliche Ausbildung in Österreich durchlaufen müssen.

Das Angebot richtet sich damit an Personen mit Migrationserfahrung, die Berufserfahrung oder eine Ausbildung in einem Lehrberuf (auch wenn im Ausland erworben) aufweisen können, der in Österreich anerkannt ist oder an einer berufsbildenden mittleren oder höheren Schule unterrichtet wird.

Dazu können Personen, die vom Arbeitsamt an das ÖJAB geschickt werden, im Rahmen eines 10-tägigen Kompetenzcenters ihre sozialen, fachlichen und methodischen Fähigkeiten demonstrieren. Anhand der Ergebnisse und des aktuellen Bedarfs des österreichischen Arbeitsmarktes werden persönliche Expertisen über die Qualifikationen der Teilnehmer:innen erstellt. Es wird untersucht, ob ein „Gap“ vorhanden ist – eine Differenz zwischen mitgebrachten Qualifikationen und dem Bedarf heimischer Betriebe. Anhand der Expertise und des vorhandenen “Gaps” werden den Teilnehmer:innen entsprechende Bildungs- und Integrationsmaßnahmen sowie ggf. Arbeitstrainings angeboten. So wird es den TeilnehmerInnen ermöglicht, am österreichischen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Das Kompetenzzentrum beinhaltet außerdem anschließende individuelle Nachbetreuung. Über ein ergänzendes 6-monatiges Praktikum in einer NGO können sie zudem ihre vorhandenen Deutsch-Grundkenntnisse fachlich ausbauen.

Viele KMU, die als “Hidden Champions” vor allem handwerklich ausgebildete Menschen händeringend suchen, kooperieren mit der ÖJAB. Sie möchten Menschen finden, deren “Curriculum Vitae” ihre wahre Kompetenz nicht auszudrücken vermag.18

Dies weiter gedacht, ließe sich über solch kreativ operierende Kompetenzzentren durchaus eine schnellere Anerkennung informell oder non-formal erworbener Fähigkeiten ermöglichen.

Dritte Orte

Die Diskussion über “Dritte Orte” ist nicht neu. Sie nimmt aber einen immer größeren Stellenwert im Kontext einer zukunftsfähigen Gesellschaft – also im Sinne einer Postwachstumsgesellschaft im digitalen Zeitalter – ein. Bereits in früheren Co:Lab-Initiativen wurde die Bedeutung “Dritter Orte” im Zusammenhang des Wandels der Arbeitswelt und der Bedeutung von lebenslangem Lernen herausgehoben.

Dritte Orte sind öffentliche Räume wie Cafés, Kioske, Nachbarschaftszentren, CoWorking-Spaces, Bibliotheken, Volkshochschulen oder auch Maker- bzw. Hackerspaces. Es sind somit (Lern)Räume, in denen sich Menschen einfach begegnen können, weil sie öffentlich und grundsätzlich jedem zugänglich sind. Die Anforderungen zur Beteiligung an Interaktionsprozessen können hier möglichst gering  (“niederschwellig”) gehalten werden. In Abgrenzung zur eigenen Wohnung (first place) und dem Arbeitsort (second place) sind Menschen mit einem “Dritten Ort” nicht persönlich verbunden – er ist somit ein neutraler Raum.

Gerade hochwertige und nachhaltige Bildung ist ein Schlüsselfaktor für eine zukunftsfähige Gesellschaft. “Dritte Orte” haben in diesem Zusammenhang eine Scharnierfunktion und sind Katalysator, entsprechend der zuvor genannten zentralen Forderungen an ein wirksames Bildungssystem für das 21. Jahrhundert. “Dritte Orte” haben damit das Potenzial, die Nachhaltigkeitsdimensionen ökologisch, ökonomisch, sozial und technologisch zentral mit aufzugreifen und wirksam umzusetzen. Ansatzpunkte an die SDG’s 4, 8 und 11 wurden zuvor bereits genannt.

Makerspaces als Ausprägung “Dritter Orte”

Auch wenn der Begriff der “Dritten Orte” schon lange bekannt ist und diskutiert wird, stellen die darunter fallenden Makerspaces ein relativ neues Strukturelement dar. Makerspaces sind Orte der gemeinschaftlichen analogen und digitalen Produktion – also öffentlich zugängliche Räume, in denen den Zugangsberechtigten eine Infrastruktur zur Verfügung steht, um selbst neue Produkte, Technologien oder Businessmodelle zu entwickeln.

In Makerspaces wird beispielsweise über digitale Plattformen eine orts- und zeitunabhängige digitale Kollaboration intern wie extern ermöglicht. Sie können von Vereinen initiiert und getragen werden – oder auch Bestandteil von öffentlichen Einrichtungen wie Bibliotheken, privaten Bildungseinrichtungen oder sogar von Unternehmen sein. Gute Beispiele sind das Verschwörhaus als digitaler Bolzplatz in Ulm19 und der Makerspace der Stadtteilbibliothek in Köln-Kalk20. Viele weitere Orte und Ansätze in den USA, Österreich, Schweiz und Deutschland wurden 2017 in dem MOOC “Leuchtfeuer 4.0” vorgestellt und diskutiert.21

Exkurs: Verschwörhaus der Stadt Ulm
Das Verschwörhaus der Stadt Ulm ist ein physischer Raum für Aktive im Digitalen Ehrenamt. Hervorgegangen aus dem örtlichen Open Knowledge Lab und den Jugendmedienbildungsangeboten rund um “Jugend hackt” treffen sich dort mittlerweile auch viele andere selbständige Gruppen. Angefangen vom freien Sensornetzwerk The Things Network bis zur Arbeit an freiem Wissen und offenen Daten gibt es hier einen Raum mit den geeigneten Werkzeugen, um spielerisch und ohne Profitorientierung digitale Mündigkeit zu erwerben und auszuleben. Der Austausch mit der Stadtverwaltung geschieht dabei organisch gewachsen und eher nebenbei und wird explizit nicht forciert.

Wie dieses Beispiel zeigt, erhalten die Teilnehmer:innen über einen Makerspace einen niederschwelligen Zugang zu materiellen Ressourcen wie Technologien und Werkzeugen sowie zu ideellen Ressourcen durch den Wissensaustausch im Umgang mit “neuen” Technologien. Sie leisten damit insbesondere im Kontext des lebenslangen Lernens und durch ihre auf Dauer angelegten Strukturen einen entscheidenden Beitrag zur nachhaltigen Kommunalentwicklung.

 

Exkurs: Lerninseln der Stadt Karlsruhe
Ausgehend von der Ernst-Reuter-Gemeinschaftsschule entwickelt die Stadt Karlsruhe ein Konzept zur Förderung und Visualisierung (außerschulischer) Lernorte. Mit den Lerninseln finden Schüler:innen, aber auch Bürger:innen sogenannte „Dritte Orte“ vor, in denen Sie lernen und arbeiten können. Dabei gibt es, je nach Lerninseltyp Orte der digitalen Teilhabe, MINT-Spaces, virtuelle Lerninseln uvm., deren Angebote auf einer interaktiven Karte der Stadt Karlsruhe sichtbar und über eine App buchbar gemacht und auch von Besucher:innen bespielt werden können.22

 

Schlussfolgerungen für Dritte Orte

  1. Aktive Förderung! Dritte Orte sind zentraler Bestandteil des kommunalen Ökosystems im Bereich der non-formalen Bildung und entsprechend Garant für ein nachhaltiges und zukunftsorientiertes lebenslanges Lernen. Durch ihre Strukturen bieten sie den Nutzer:innen eine Plattform für freiwilliges, interessengetriebenes, selbstorganisiertes und informelles Lernen. Daher sollten sie speziell auf kommunaler und regionaler Ebene aktiv gefördert werden.
  2. Ehrenamtliches Engagement: Mit Blick auf die bestehenden kommunalen Ressourcen stellen ehrenamtliches Engagement und durch Vereine realisierte “Dritte Orte” eine große Chance für die örtliche Gemeinschaft und die örtliche Identität dar. Aus diesem Grund sollte darauf von Kommunen ein besonderer Schwerpunkt gelegt werden. Die Kommune nimmt in diesem Zusammenhang die Rolle der Ermöglicherin und Netzwerkerin ein. Dennoch wäre zu prüfen, inwieweit ehrenamtliches Engagement auch durch hauptamtliche Kräfte im Sinne eines professionellen Managements – etwa im Hinblick auf die Erweiterung von Öffnungszeiten – unterstützt werden kann.
  3. Synergien schaffen: “Dritte Orte” sind ein Baustein einer wirksamen Bildungslandschaft, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Daher gilt es, die unterschiedlichen Akteure insbesondere auf kommunaler und regionaler Ebene zu vernetzen und Synergien für eine nachhaltige und hochwertige Bildung zu schaffen. Dazu gehört es auch, die Bausteine der non-formalen Bildungsangebote mit denen der formalen Bildungsangebote beispielsweise von Schulen und Hochschulen zu kombinieren. Hier steckt unserer Ansicht nach die größte Dynamik für die persönliche und an den Interessen des einzelnen ausgerichtete Potenzialentfaltung. Ziel sollte sein, seitens der Kommune eine vernetzte Lernregion entstehen zu lassen, die Synergien schafft, statt Silos zu fördern.

Fazit

Nicht die Vermittlung von Wissen steht künftig an erster Stelle einer zeitgemäßen Aus- und Weiterbildung, sondern den Menschen individuelle Wege aufzuzeigen, wie sie sich entlang der eigenen Stärken und Interessen persönlich fortentwickeln können, wird entscheidend sein auf dem Weg in eine nachhaltige Bildungsrepublik. Dazu können digitale Lernumgebungen, Blended Learning, Selbstlernangebote, aber auch psychologische oder berufsorientierende Anlaufstellen einen Beitrag leisten.

Die handelnde Person muss hier aber das sich selbst bewusste Individuum sein. Dieses gilt es systemisch zu stützen – und herauszufordern. Nur so können wir allen Menschen, die mitgestalten wollen, eine Teilhabe ermöglichen. Das Bildungssystem blickt zu einseitig auf die Schwächsten und deren Bedarfe – und dient sich dann als nivellierende Problemlösungsmaschinerie auf (über alle Einrichtungen hinweg) niedrigem Niveau an. Indem wir alle “Lernenden” über einen Kamm scheren, bleiben viele Potenziale von Menschen unerkannt und können so nicht gehoben werden. Sicherlich müssen wir alle Personen mitnehmen auf dem gemeinsamen gesellschaftlichen Weg. Keine Frage! Aber wir brauchen auch die Stärken der vormals Starken, die in den Umbruchzeiten hinten herunterfallen und die neue Wege gehen könnten, wenn man sie denn ließe.

Wir müssen aus dem Opferdenken des Bildungssystems raus: Die Menschen sind nicht prioritär vor der sie überrollenden sozio-technologischen Gewalt zu schützen. Vielmehr gilt es, mehr die Potenziale eines sozio-technologischen Empowerments zu fördern.

Dazu braucht es in einer sich schnell verändernden Welt besserer Rahmenbedingungen auch für die Erwachsenen, jenseits von der zigsten Bildungsplattform mit Lernangeboten für das Selbststudium, die mit Millionenbudget wie z.B. bei der nationalen Bildungsplattform eher hilflos ein Angebot entlang der etablierten Bildungseinrichtungen vermeintlich “qualitätsgesichert” darbietet.23

Mehr ist eben nicht mehr – es braucht hingegen mehr subjektive Lernkompetenz auf allen Ebenen des Bildungskomplexes. Weniger methodische Lehrkompetenz, auf die sich traditionelle Pädagog:innen und bildungspolitisch Interessierte gerne kaprizieren. Auch diese müssen erst persönlich in einen kontinuierlichen Lernprozess im digitalen Raum einschwenken, der sich nicht an der Anzahl absolvierter Zertifikate bemisst, sondern an einem punktgenauen Kenntnisstand am digitalen Puls der Zeit. Die Welt verändert sich rasant – mit den alten Prozeduren werden wir nicht Schritt halten können.

Es braucht eine gesamtgesellschaftlich offene, neue Bildungskultur!

Also, nochmals in aller Kürze:

  1. Wir benötigen verbesserte Rahmenbedingungen für alle Lernwilligen auf infrastruktureller wie kultureller Ebene!
  2. Es gilt, möglichst allen Menschen einen Weg zu zeigen, wie sie sich selbst helfen können, wenn der Arbeitsmarkt ihnen keine Teilhabe als Angestellte ermöglicht.
  3. Wir brauchen mehr Bemühungen, die Menschen über kreative Irritationen der kulturellen Bildung für die Klimakrise weiter zu sensibilisieren.
  4. Wir sollten den Menschen neue Wege zu einer “Circular Economy” aufzeigen und ihnen ermöglichen, sich hier selbst mit ihren Ideen innovativ einzubringen.
  5. Laut BITKOM Research verfügt nur eine knappe Mehrheit (55 Prozent) der Unternehmen über das Wissen, wie sich digitale Technologien für mehr Nachhaltigkeit einsetzen lassen. Dies ist ein gutes Beispiel, wo dringend angesetzt werden muss.
  6. Auch gilt es zu überlegen, wie Fördergelder sinnvoller und strategischer eingesetzt werden können, um das Bildungssystem im primären Interesse der Lernenden – und weniger der Lehrenden und ihren Institutionen – zu entwickeln.
  7. Wie kann also im Bereich Bildung überprüft werden, ob neue Bildungskonzepte auf die Ziele der Bildungsagenda 2030 abgestimmt sind? Wer hat hierfür den offiziellen Auftrag und was kann jede:r Einzelne tun? Gibt es eine Messbarkeit für die nachhaltige Wirkung notwendiger Transformationsprozesse?
  8. Wie gelangen wir dahin, Bildung als ein regeneratives Kreislauf-System zu verstehen, in dem Bildungsressourcen wirkungsvoll eingesetzt werden? (Und das meint weit mehr als Open Educational Ressources, die sich letztlich auf alte Bildungsmedien fokussieren.)
  9. Vernetzte Lernregionen und regionale Bildung können Synergieeffekte vor Ort schaffen! So könnten beispielsweise neue, attraktive Lernräume in den aussterbenden Innenstädten entstehen.
  10. Mit anderen Worten: Es gilt, die alten Trampelpfade zu verlassen und bildungspolitisch neue Wege zu gehen! Aus den etablierten Bildungseinrichtungen heraus wird zu wenig Innovation kommen. Es würde sie zerstören. Deshalb muss die Politik gegen alle Widerstände hier weiter  vorangehen – und zwar weit über die Gleichsetzung von Bildung und Schulen hinaus!

Referenzen

  1. https://de.wikipedia.org/wiki/Donut-%C3%96konomie
  2. Siehe https://www.spiegel.de/spiegel/wie-shell-sein-wissen-ueber-den-klimawandel-geheim-hielt-a-1202889.html und https://www.bpb.de/gesellschaft/bildung/zukunft-bildung/156819/menschenrecht?p=all
  3. Siehe https://www.spiegel.de/spiegel/wie-shell-sein-wissen-ueber-den-klimawandel-geheim-hielt-a-1202889.html und https://www.bpb.de/gesellschaft/bildung/zukunft-bildung/156819/menschenrecht?p=all
  4. de Haan, G. (2008a): Gestaltungskompetenz als Kompetenzkonzept für Bildung für nachhaltige Entwicklung
  5. https://www.bmz.de/de/agenda-2030/sdg-4
  6. siehe dazu auch https://colab-digital.de/initiativen/koki/arbeit/
  7. siehe https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/2015/2015_06_00-Orientierungsrahmen-Globale-Entwicklung.pdf
  8. https://www.bmz.de/de/agenda-2030/sdg-4#anc=Was
  9. https://www.zeit.de/wirtschaft/2021-12/mittelschicht-aufstieg-bildung-einkommen
  10. siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Ziele_f%C3%BCr_nachhaltige_Entwicklung
  11. https://www.nachhaltigkeit.info/artikel/brundtland_report_1987_728.htm
  12. Interessante Vision für 2050 hier: https://transform-magazin.de/wenn-der-letzte-hammer-gefallen-ist/
  13. https://www.unesco.de/sites/default/files/2021-05/BNE%202030_Rahmenprogramm_Text_Deutsch.pdf, Punkt 4.2.
  14. siehe dazu https://www.kgst.de/documents/20181/34177/KGSt-Bericht-5-2021_Open-Source.pdf
  15. https://eacea.ec.europa.eu/national-policies/eurydice/content/funding-education-31_de
  16. Siehe https://www.scribd.com/document/375069712/175015-Education-in-Finland
  17. Siehe https://www.rnd.de/politik/china-zerschlaegt-seinen-boomenden-nachhilfesektor-nachhilfe-soll-kein-geschaeftsmodell-mehr-sein-NKW2CPL4BNBJ3LGBZG5KXKC6CU.html und https://www.dw.com/de/kampf-gegen-exzessive-nachhilfe-in-ostasien/a-58740288
  18. https://www.oejab.at/bildung-integration/jugend-und-erwachsenenbildung/kompetenzenerheben
  19. https://www.offene-werkstaetten.org/werkstatt/verschwoerhaus
  20. https://www.stadt-koeln.de/artikel/04943/index.html + Interview von Anja mit Bettina Scheuer von der Stadtbibliothek Köln: https://youtu.be/ZqAwZW3tbJ0
  21. Hier weiterhin kostenfrei einsehbar: https://www.oncampus.de/weiterbildung/moocs/leuchtfeuer-40
  22. https://lerninseln.com/
  23. Siehe https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/projekt-der-bundesregierung-digitaler-aufbruch-oder-millionengrab-zweifel-an-nationaler-bildungsplattform/27483584.html?ticket=ST-3117391-SSZQdhcHogPqMR7e3Hje-cas01.example.org

Die Arbeitsgruppe Bildung

Gerd Armbruster

Gerd Armbruster ist bei einer Großstadt verantwortlich für das Thema IT in den Schulen. Besonders spannend ist für ihn die Schnittstelle zwischen Pädagogik und IT.

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Marvin Baldauf

Marvin Baldauf ist seit mehreren Jahren in verschiedenen Funktionen bei der Metropolregion Rhein-Neckar tätig. Er begleitet als Projektleiter verschiedene Vorhaben und beschäftigt sich intensiv mit der digitalen Transformation der öffentlichen Verwaltung sowie dem Thema Bildung. Seit 2021 leitet er mit dem Vorstand die Genossenschaft „KommunalCampus eG“.

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Nicole Bauch

Nicole Bauch ist Mitgründerin und geschäftsführende Gesellschafterin von FROLLEINFLOW, dem Institut für kreative Flaneure in Berlin. Sie ist verantwortlich für die Bereiche E-Learning und Education Marketing an der Schnittstelle von Arbeit und Bildung 4.0.

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Sabine Gessenich

Sabine Gessenich setzt sich mit POTENTIALO in verschiedenen Gremien für die dringend überfälligen Veränderungen in unserem Schulsystem ein. Die Entwicklung von sozial-emotionalen Kompetenzen ist aus ihrer Sicht in Zeiten der Digitalisierung außerordentlich wichtig und deshalb die Grundlage ihrer täglichen Arbeit.

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Marc Groß

Marc Groß ist Co-Vorsitzender des Vereins Co:Lab e:V. Hauptberuflich leitet er den Programmbereich Organisations- und Informationsmanagement in der Kommunalen Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsmanagement (KGSt). In dieser Rolle verantwortet er die Vision und die Strategie einer zukunftsfähigen kommunalen Digitalisierung und eines progressiven Organisations- und Informationsmanagements.

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Jens Christian Kneißel (Foto: Robert Szkudlarek)

Jens Christian Kneißel ist Dipl.-Ing. (FH) der Landschaftsarchitektur, Lehrer für Naturwissenschaften und Technik an einer städtischen Realschule sowie Mitbegründer und Sprecher des FabLab Hamm-Westfalen e.V., einer offenen Werkstatt, die analoge und digitale Fertigungstechniken vermittelt und zu deren (Be-)Nutzung anregt. Derzeit bündelt er, alle relevanten Aktivitäten und Akteure für den Bau eines (über-)regionalen Makerspaces als außerschulische Bildungs- und Freizeiteinrichtung in Hamm.

 

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Anja C. Wagner

Dr. Anja C. Wagner beschäftigt sich mit globaler Transformation im digitalen Wandel. Sie gilt als kreative Trendsetterin und bezeichnet sich selbst als Bildungsquerulantin. Mit FROLLEINFLOW bietet sie heute Studien, Vorträge, Consulting und verschiedene Online-Projekte an. Ihr aktuelles Buch lautet: “Berufen statt zertifiziert.” Anja bringt sich zudem als Mitglied des Lenkungskreises des Co:Labs aktiv in das Denklabor mit ein.

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